Same, same – but different

Eine Unternehmensberaterin hat sich vorgenommen, in einem Entwicklungsland zu arbeiten. Als Lehrerin. Nicht als Unternehmensberaterin. Die Geschichte einer Sabbatical-Vorbereitung

von JUDITH LUIG

Das erste Treffen in Delhi ist programmatisch. Nichts läuft so, wie Sita es sich vorgestellt hat. Längst wollte sie bei der Schule sein, der sie im nächsten Frühjahr drei Monate ihrer Zeit schenken will. Längst wollte sie ihre zukünftigen Schützlinge sehen. Wollte sich erste effektive Strategien überlegen, wie man Kindern aus ärmlichen Verhältnissen etwas beibringen kann, womit sie eine Chance auf ein besseres Leben haben.

Stattdessen steckt der Wagen im völlig uneffektiven Verkehrschaos und nichts geht mehr. Von links drängt sich eine Kuh vorbei, von rechts reckt ein hagerer Bettler seine verstümmelte Hand fordernd durch den Fensterschlitz, und vorne auf dem Beifahrersitz sitzt Iytha Mallikarjuna und hört nicht auf zu reden. Von dem Elend der Slums in der Vierzehn-Millionen-Stadt spricht er, von den kleinen indischen Kindern mit den großen Augen und den noch größeren Träumen. Von der Hoffnung, die sein Projekt bringt, und dem Glück.

Sita S. dämmert auf dem Rücksitz zwischen Mittagshitze von draußen und Klimaanlagenterror von vorne. Sie versucht, den Straßengestank auszublenden, bloß nicht an den Bettler zu denken und registriert höchstens die Fakten des Wortschwalls: Dass sich vor drei Jahren Studenten der Naturwissenschaften der renommierten Nehru-Universität zusammengetan haben und eine Hilfsorganisation gegründet haben. Dass aber das Konzept – irgendetwas für Kinder und für die Umwelt – noch nicht so feststehe und man sich deshalb programmatisch Search nennt.

Iytha glaubt fest daran, dass er aus Slumjungs nach dem Vorbild von Robbie Williams erst Boygroups und dann Superstars machen kann. Daneben sucht der Student nach künstlerisch begabten Kindern, um ihre Werke in den Büroräumen von Search für eventuelle Käufer auszustellen. Sita S. ist weniger romantisch. Vor ihrem geistigen Auge hat sich die Deutsche ihre Mission im Herkunftsland ihrer Mutter ausgemalt. Sie will Kindern Englisch beibrigen – in diesem gigantischen Land mit den unzähligen Sprachen eine wichtige Eintrittskarte für die besseren Jobs. Sie will etwas bewirken. Vor Ort.

Sita und Iytha haben ein ähnliches Ziel: Schicksal spielen. Aber einen ganz anderen Hintergrund. Vier Jahre lang arbeitete Sita als Unternehmensberaterin, ein Nonstopjob mit Leben im Hotel. Irgendwann reichte es ihr. Ein Burn-out, so heißt das in der Beratersprache. Oder, wie die 28-Jährige es ausdrückt: „Ich hatte die Schnauze voll davon, mir ständig über meine ‚work-life balance‘ Gedanken zu machen. Man knallt das gesamte Privatleben in 48 Stunden Wochenende und schläft am Ende auf dem Barhocker ein.“

Für sechs Monate lässt Sita jetzt ihren Beraterjob ruhen. Ein Sabbatical. Und das will sie in Indien verbringen, mit möglichst vielen Kindern und möglichst wenig Flip-Charts. Statt durchzurechnen, wie eine Firma möglichst viele Leute entlassen kann, will Sita dafür arbeiten, dass möglichst viele Kinder eine Ausbildung erhalten, mit der sie später vielleicht einen Job bekommen. Von Bewusstseinserweiterung und Selbstfindung allerdings sei bei ihr nach eigener Aussage keine Spur. „Ich sehe das wie ein Projekt“, hat sie ihren Kollegen beim Abschied erklärt. Das heißt aber auch, dass alles nach ihren Vorstellungen zu laufen hat.

Der Wagen schaukelt über die Straße. Kinder laufen ihm nach und bestaunen die Ladung auf dem Rücksitz. Ein Auto in dieser Gegend ist schon Aufregung wert – aber dann noch „Westerners“ – toll! Nach endlosen bunten Hüttenreihen taucht ein freier Platz auf: ein Spielplatz, der eigentlich nur aus einer Rutsche besteht. Ein paar Jungs spielen Cricket mit Holzbrettern. Dahinter eine Schule.

Iytha führt Sita in eine der Klassen. Der Boden ist bedeckt mit hockenden und kauernden Kindern. Sita hat Bleistifte mitgebracht, die sie jetzt verteilen darf. Die Lehrerin schleppt einen Globus heran. „Wer kann mir Indien zeigen?“ Ein Mädchen im grünen Punjabidress wird ausgewählt. Jetzt Deutschland. Zur Untermalung wird „Through all the world India is great“ angestimmt. Dann dürfen die Kinder Fragen stellen. „Darf ich dich Didi nennen?“, will ein Mädchen wissen. Didi ist Hindi und bedeutet große Schwester. Sita ist glücklich. Noch schnell ein Erinnerungsfoto, dann in die nächste Klasse.

Der Kontakt mit den Kindern, resümiert Sita abends im Hotel, habe ihr schon sehr gefallen. Nicht so sehr die Aufgaben, die sie hier erwarten. Iytha und seine Organisation halten nämlich nichts von Sitas Mission. Search will keineswegs, dass Sita Kinder an ihren Busen drückt. Ungeschulte Gutmenschen, die Zeit und Geduld opfern wollen, hat die Organisation viele. Das Wissenspotenzial der BWLerin ist es, was Iytha reizt. Sita soll ihm bei der Öffentlichkeitsarbeit helfen, Sponsoren für die Kunstprojekte finden, andere Helfer in Grundlagen der Betriebswirtschaft schulen. Aber das will Sita nicht.

Das nächste Projekt ist eine Schule in einem Armenviertel – siebentausend Kilometer weiter südwestlich, in Mumbai, oder, wie die meisten noch sagen: Bombay. Vor dem Haus scharrt eine Menge Hühner im Dreck. Kinder sind weit und breit keine zu sehen.

In seinem Büro begrüßt Colonel J. P. Bajpai in weißem Nehru-Outfit den Gast mit großer Geste. Seine Organisation Indian Council for Mental Health (ICMH) ist eine der ältesten des Landes, erklärt er stolz. 1949 wurde sie gegründet. Heute kümmern sich dreißig Mitarbeiter hauptberuflich um Finanzen und Organisation. Vor sieben Jahren habe ICMH das erste Projekt ins Leben gerufen: eine Schule, in der jetzt zehn Lehrer fünfzig geistig zurückgebliebene Kinder sowie fünfzig Kinder mit Hörschäden unterrichten. Die Schüler stammen größtenteils aus Mittelklassefamilien, die Eltern zahlen Schulgeld. Nun möchte ICMH digitale Hörgeräte kaufen, mit Geld von deutschen Spendern – dabei soll Sita helfen. Die vorhandenen analogen Geräte verschleißen allmählich.

Sita rechnet ein bisschen herum und findet das Ganze nicht richtig überzeugend. Der Fall ist das genaue Gegenteil zu Search: Hier gibt es jede Menge Organisation, aber: Gibt es hier überhaupt Kinder? Doch, doch, beruhigt der Colonel, aber die Schule liegt fast zwei Autostunden von Mumbai entfernt.

Vom kommerziellen Projekt so wenig begeistert wie vom studentischen, macht sich Sita ein paar Tage später auf zu einer offizielleren Institution: CRY in Mumbai. Schon im Namen „Child Relief and You“ macht die Nonprofit-Organisation deutlich, dass es ihr auch um die Helfer geht. CRY hat selbst keine Projekte, sondern unterstützt 171 indische Hilfsorganisationen mit seinen Ressourcen. Der wichtigste Teil der Arbeit besteht darin, die Qualität und Seriosität indischer Nonprofit-Organisationen sicherzustellen.

Im Hauptquartier in einer kleinen staubigen Gasse erfährt Sita, dass ihr Problem typisch ist. Wer helfen will, hat oft romantische Vorstellungen von der Arbeit. „Die Kluft zwischen Erwartung und Realität ist riesig“, erklärt Ingrid Srinath, Leiterin der Abteilung Resource Mobilisation. Und Realität sind nicht nur ein paar chaotisch wirkende Organisatoren. Eines der Hauptprobleme für Europäer ist es, die Armut und die kranken, sterbenden Menschen aus nächster Nähe zu erleben. Von fünfhundert Freiwilligen, die sich jährlich bei CRY melden, fühlen sich nur 150 den Herausforderungen gewachsen.

Sita könnte genau bei diesem Problem helfen, das CRY jetzt mit ihr hat: ein Konzept erstellen, wie man die eifrigen Helfer sinnvoll unterbringt, wie man eine Aufgabe für sie findet, die allen nützt. Viel später lernt Sita in einer German Bakery in Cochin, Kerala, einem Rückzugsgebiet für kulturschockierte Touristen, zwei schwäbische Abiturientinnen kennen. Eine von ihnen, Bernadette, hatte drei Monate lang in einem Waisenheim in Bangalore behinderte Kinder betreut. Was sie tun sollte, hatte ihr niemand gesagt. Dasitzen mit den Kindern, erzählen, sie in den Arm nehmen – das habe schon viel bedeutet, erzählt Bernadette. Ihre Freundin wollte nachkommen. Doch dann, eines abends, hat Bernadette eine ihrer indischen Kolleginnen in Tränen aufgelöst im Hof angetroffen. Ihr war gekündigt worden, da jetzt ja jemand aus Deutschland käme, der umsonst arbeite. „Sie tat mir so leid“, erklärt Bernadette. Da hat sie gekündigt.

Erst mehrere tausend Kilometer weiter und mit heruntergeschraubten Ansprüchen findet Sita dann endlich die für sie optimale Organisation. Das Setting ist nach Delhi, Mumbai oder Kerala denkbar fordernd: Chennai, früher Madras genannt, ein Großstadtmoloch im übelsten Zustand. Aber Sita kann hier das machen, was ihr gefällt: mit Kindern arbeiten.

Sita hat übrigens ihre Zeit durchgehalten. Obwohl kurz vor ihrem Abflug nach Indien noch ein attraktives Projekt in ihrer Firma lockte. Sita hat in der Relief Foundation für freies Spielen und kreative Beschäftigung der Kinder gesorgt. Irgendwann wurde ihr das aber dann zu einseitig und sie hat angefangen, die Organisation zu beraten. Sie hat Strategie-Workshops gehalten, Flip-Charts eingesetzt und Templates verfasst.

„Wenn ich meine Zeit in Indien beschreiben soll“, resümiert sie später, „dann war das wie einer meiner Basarbesuche. Ich hatte in der Auslage einen roten Paschminaschal gesehen und fragte den Händler: ‚Haben Sie den auch in Braun?‘ Man bot mir Tee an, ich sollte mich setzen, und dann breitete der Händler zirka zwanzig bunt bestickte Seidentücher vor mir aus. ‚Nein, nein, den Wollschal in Braun!‘ Der Händler blickte mich freundlich an und sagte: ‚Same.‘ Ein Wollschal ist doch kein Seidentuch. ‚Same, same‘, wiederholte er, ‚but different.‘“ Erst nach ein paar Monaten Erfahrungen mit dem Land verstand Sita, was er meinte: „Für ihn war ich gekommen, um Geld für Kleidung auszugeben. Und das hat er mir ja geboten.“ Sita hat in Indien mit dem geholfen, was sie am besten kann. Und zum Helfen war sie ja gekommen.

JUDITH LUIG, 28, ist taz.mag-Redakteurin. Seit einem Schulwechsel vor siebzehn Jahren ist auch sie eine Art widerspenstiges Entwicklungshilfeprojekt für ihre Freundin Sita