Palastgeschichten

Alexander Iljinsikij, Berlins dienstältester Intendant, verlässt den Friedrichstadtpalast. Am 31. Juli 2004. Zeit für einen Blick auf den Betrieb, das Skelett der Glamourwelt

von NADJA KLINGER

Wenn es über Berlin dunkel wird, schalten sie im Friedrichstadtpalast das Licht an. Es glitzert in den Fenstern, die graue Fassade wird bunt. Alles nur Schein – einer, der verführt, aber nicht trügt. „Revuetheater kommt dem Bedürfnis nach einem Stück heiler Welt entgegen“, sagt Alexander Iljinskij, der Intendant. Starfotograf Jim Rakete ist mit ihm aufs Dach gestiegen. Es ist 1999. Iljinskij hat sich ganz an den Rand gesetzt. Er trägt eine schwere, schwarze Lederjacke mit Fellkragen. Unter ihm reißt die Stadt das Maul auf. Es ist eine Stadt, die sich seit über zehn Jahren völlig verausgabt. Die nach Neuem greift und dabei immer wieder etwas von sich opfert. Eine Stadt, die lauert. Iljinskij könnte abrutschen, dann würde sie ihn sofort verschlingen. Er hat eine Glatze und einen Oberlippenbart. Er sitzt fest, aber nicht wie ein Palastherr, eher wie ein Mann, der Feinde wegboxt.

Erst in diesem Sommer hat ein kleiner Zeitungsartikel das Haus des heute 55-Jährigen wieder erschüttert. Da hieß es: Der Entwurf, nach dem der Friedrichstadtpalast gebaut worden ist, hätte eigentlich dem Kulturpalast in Bagdad gegolten. Der Hinweis war geschickt platziert, genau in eine Zeit, da die Amerikaner kurz vor Bagdad standen. Mit Bagdad konnte leicht das Ende verbunden werden. Alexander Iljinskij beschwerte sich nicht bei der Zeitung, sondern schrieb gleich an den Kultursenator: Bekennen Sie sich! Wollen Sie mein Theater oder nicht? Thomas Flierl rief prompt zurück. Gab aber keine Liebeserklärung ab. Denn Liebeserklärungen gehören nicht auf die politische Bühne. Iljinskij weiß das eigentlich auch. Doch dieses Jahr entscheidet Berlin, das kein Geld hat, über die Subventionierung aller Theater. Keine Bühne ist sicher. Selbst der tapferste Intendant wird sentimental.

Der Palast sei nicht für Bagdad, sondern für Damaskus vorgesehen gewesen, sagt Guido Herrmann. Er trägt ein schneeweißes Hemd und führt seit 2000 die Geschäfte im Haus. Vor seiner Zeit im Revuetheater hat er für mehrere Berliner Kultursenatoren gearbeitet. Er vertraut darauf, dass Kulturpolitiker einem Theater das Geld nicht so stark kürzen können, dass sie den Kulturbetrieb vernichten. Jedoch traut er seinem eigenen Vertrauen nicht. Denn das ist ein paar Jahre alt und rührt aus der Vergangenheit. Berlin aber verkörpert nichts so sehr wie die Gegenwart. Also fragt Herrmann Journalisten, was sie schreiben, bevor er sie ins Haus lässt. Die Frage ist ihm eigentlich peinlich. Er steht neben sich, der politikerfahrene Diplomverwaltungswirt neben dem leidenschaftlichen Theatermenschen, beide rauchen sie Pall Mall und müssen schließlich lachen. „In Berlin wird viel Kultur kaputtgeredet“, sagt Guido Herrmann. „Etwas funktioniert, aber um zu sparen, lässt man es einfach nicht funktionieren.“

Sein Kollege Achim Kujawa steht für das, was funktioniert. Er hat vor fast dreißig Jahren als Toningenieur am Haus angefangen. Sein Leben ist eine Ansammlung von Palastgeschichten. Sie handeln von Liebe, Hoffnungen und schlaflosen Nächten. Und von Berlin. Heute gehört Kujawa zur Theaterleitung. In schwarzen Klamotten, Lederhosen und Nietenstiefeln sucht er in der Welt nach Artisten, bringt sie mit und betreut sie, bis ihr Vertrag abgelaufen ist. Sein Herz schlägt im Ensemble mit anderen Herzen, sein Skelett ist das Haus. Es war einst für Aserbaidschan vorgesehen, sagt er. Oder Damaskus? Er winkt ab. Im Grunde gibt es den Friedrichstadtpalast als Bauwerk gar nicht. Er ist nicht aus Beton. Er hat eine dünne Haut. Wer ihn angreift, greift jeden der Mitarbeiter an.

Das Haus am Schiffbauerdamm, in dem Achim Kujawa 1976 zu arbeiten begann, war 1867 als Berliner Markthalle eröffnet worden. Dann wurde eine Zirkusarena daraus. Nach dem Ersten Weltkrieg baute der Regisseur Max Reinhardt den Zirkus zum Großen Schauspielhaus um. Claire Waldoff, die Comedian Harmonists und Marlene Dietrich traten dort auf. Es war die Zeit, in der Berlin Varietee-Stadt war, die Zeit, da die Stadt sich leicht nahm, der Tingeltangel das Leben beherrschte und die Gewissheit, sich kräftig zu amüsieren. Die Nazis benannten das Haus in Theater des Volkes um. Nach dem Krieg stand es noch. Die Artistin Marion Spadoni gründete ein Varietee, baute ein Ballett auf, ein Kinderensemble. Berlin lag in Schutt und Asche, da trat am Schiffbauerdamm bereits die berühmte Girlreihe auf. 32 Mädchen, 64 Beine knüpften an die Golden Twenties an, die Hochzeit der Berliner Revueszene.

Ihren Friedrichstadtpalast in der Hauptstadt ließ sich die DDR etwas kosten. Er war bunter und glänzender als das Land. Er hatte feste Sendeplätze im Fernsehen. Man engagierte Showstars, baute ein Programm um sie herum, ließ mittelmäßige Artisten auftreten und das hauseigene, überalterte Ballett die Lücken füllen. Es hatte alles seinen Sinn, selbst wenn auf der Bühne über Dinge gesprochen wurde, die ansonsten kein Thema waren. Im Friedrichstadtpalast pflegten die DDR-Bürger ihre fragwürdige Tradition, sich gemeinsam über etwas zu amüsieren, was so lustig nicht war. Der Palast hat das Land bei Laune gehalten.

1980 wurde das baufällige Haus von einer Stunde auf die andere geschlossen. Das Ensemble, von seiner eigenen Wichtigkeit mehr als überzeugt, war geschockt. Es gastierte in anderen Häusern, bis an der Friedrichstraße ein neuer Palast – der ursprünglich in Bagdad, Damaskus oder Aserbaidschan stehen sollte – eröffnet wurde. Die Bühne, so groß wie ein Fußballfeld, hatte eine raffinierte Beleuchtungs- und Beschallungsanlage, einen absenkbaren Teil, der bei laufender Vorstellung gegen eine Eisfläche, eine Zirkusarena oder ein Wasserbecken ausgetauscht werden konnte. Es gab 1.900 Zuschauerplätze und rund 760 Mitarbeiter. Es war Mitte der Achzigerjahre. In der DDR wurde es eng, dieses Theater aber protzte mit seinen Möglichkeiten.

Mit dem Fall der Mauer und dem Ende der DDR wurde der große Friedrichstadtpalast zu einem kleinen Teil des kleinen Ostberlin. Erst verlor er seine Bedeutung, dann seine Geschichte, schließlich sein Selbstwertgefühl. Mitarbeiter wurden entlassen. Man kämpfte um Orchester, Ballett und Gastronomie, um alles, was man für wesentlich hielt. Aber was war wesentlich? Und was würde es bald noch sein? Achim Kujawa wurde Personalratschef.

Der Posten war nicht sein Traum, er arbeitete lieber als Toningenieur, als selbst im Rampenlicht zu stehen. Nun besuchte er Schulungen, studierte das Arbeitsrecht, legte sich Gesetzbücher zu, telefonierte mit der Gewerkschaft. Er tauchte mit seinen Kollegen im Kultursenat auf, sie fanden Verbündete unter Stadtpolitikern, Künstlern, Journalisten. Sie schrieben Briefe, künstlerische Konzepte. Was aus ihrem Theater werden sollte, verriet man ihnen jahrelang nicht. Berlin war kein Terrain für Antworten, hier gab es nur Fragen. War die leichte Muse zu leicht? War es an der Zeit, sich zu amüsieren? Das traditionelle Varietee wurde zum Sinnbild des Vergangenen. In der Stadt, die sich einst so sicher war, war alles ungewiss.

Es wuchs Furcht. Es wuchs Kraft. Die Tänzerinnen des Friedrichstadtpalastes forderten höhere Tarife. Man streikte, verlas Resolutionen, sammelte Protestunterschriften. Das Haus lief auf Hochtouren – mit einem merkwürdigen Gemisch aus Niedergeschlagenheit und Selbstbewusstsein. Bis heute.

Auch die Berliner Politiker hatten viele Fragen und mitunter keine brauchbare Ideen. Im Sommer 1992 setzte Kultursenator Ulrich Rohloff-Momin den Amerikaner Julian Herrey als neuen Intendanten ein. Herrey war Technischer Direktor verschiedener Bühnen gewesen. Am Friedrichstadtpalast wurde er „der Professor“ genannt. Er passte nicht zur Revue, er passte zur Situation: Einem traditionellen Stadttheater ging die Stadt verloren. Herrey kaufte Regisseure, Dramaturgen und Ballettlehrer aus Amerika ein. „JazzLeggs“ entstand, eine Inszenierung ohne „berlinische Dramaturgie“, nach einem Muster, das aus Las Vegas kam. Im Friedrichstadtpalast sagt man, Julian Herrey hätte den Auftrag gehabt, das Haus kaputtzuspielen. Guido Herrmann, der Referent von Ulrich Rohloff-Momin war, sagt, solche Aufträge vergäben Kultursenatoren grundsätzlich nicht. Jedoch wurde Herrey bald von allen Fraktionen im parlamentarischen Kulturausschuss kritisiert. Am Palast gab es einen Misstrauensantrag gegen den Intendanten. Der reagierte mit fristlosen Kündigungen und Hausverboten. Auch Chefdramaturg Alexander Iljinskij musste gehen. Achim Kujawa erklärte auf einer Pressekonferenz, sein Intendant mache das Haus kaputt, danach ließ der Pförtner auch den Personalratsvorsitzenden nicht mehr hinein.

1993 hatte „JazzLeggs“ Premiere, und zwei Drittel der Plätze im Zuschauerraum blieben fortan frei. Die berlinische Dramaturgie setzte sich am Haus von selbst durch: Der Friedrichstadtpalast war am Ende und begann von vorn. Bei Achim Kujawa zu Hause klingelte das Telefon. „Wie geht’s?“, fragte Alexander Iljinskij. „Beschissen“, antwortete Kujawa. – „Der Senator hat mich zurückgeholt, ich bin jetzt der Chef“, sagte Iljinskij. „Sei morgen pünktlich! Um zehn fangen wir an!“

Morgens um zehn im Herbst 1994 stand Alexander Iljinskij vor einer aufgeregten Kampfgemeinschaft und begann, wieder ein funktionierendes künstlerisches Ensemble aus ihr zu machen. Er zog aus und brachte seinen Palast ins Gespräch. Die Stadt machte es ihm nicht leicht. Kunst muss sich stets legitimieren, Unterhaltungskunst doppelt. Es gibt Leute, die Iljinskij immer wieder angreifen, die die leichte Muse in Frage stellen. Sie interessierten ihn nicht, diese Leute, behauptet Iljinskij. Jedoch heißt es, er habe sie sich alle irgendwann zur Brust genommen. Er hat sie, wenn er auszog, das Fürchten gelehrt.

Fachleute bestätigen den Shows des Friedrichstadtpalastes, einzigartig in der Welt zu sein. Jürgen Nass, Regisseur und Spielleiter am Haus, sagt: „Auf den Bühnen von Las Vegas, an denen immer eine Spielbank hängt, sieht man viel Geld. Bei uns sieht man es auch.“ Es tanzt das klassisch geschulte internationale Ballett des Hauses, begleitet vom eigenen Orchester und eigenen Kompositionen im Bühnenbild und in Kostümen, die in den hauseigenen Werkstätten entstanden sind. „Nur geben wir höchstens ein Viertel von dem in Las Vegas aus“, fügt Nass hinzu. In den vergangenen Jahren hat das Haus mit immer weniger Subventionen gearbeitet. Derzeit sind es jährlich etwa 6,8 Millionen Euro – siebzig Prozent des Haushaltes erwirtschaftet man selbst. Die Vorstellungen sind im Durchschnitt zu neunzig Prozent ausverkauft. Vierzig Prozent des Publikums sind Berliner, zweihunderttausend Leute pro Jahr, mehr als andere Berliner Bühnen überhaupt Publikum haben. Busunternehmen aus dem ganzen Land karren Touristen heran. Sie besuchen die Abendvorstellung und dann auch noch Berlin. Sie lassen jährlich 45 Millionen Euro in der Stadt. Auch aus dem Ausland kommen Busse. Der Palast hat den Markt in Polen erobert und dort sogar eigene Vorverkaufskassen eröffnet. Außerdem kommen vor allem Schweizer, Österreicher und Briten. Die Japaner in den Wandelgängen werden immer mehr. Zweihundert Seiten dick ist die Zuschauerstudie, die das Institut für Kulturmarktforschung im letzten Jahr erstellt hat. Der Friedrichstadtpalast weiß nahezu alles über die, die zur Show kommen, und über die, die wegbleiben. Er bemüht sich zu verstehen, was passiert. Zum Beispiel dies: Pünktlich mit den Zugvögeln aus dem Norden trifft jedes Jahr besonders viel Publikum aus Skandinavien ein.

„Ihr müsst auf eurer Tradition aufbauen!“, sagte man Alexander Iljinskij in Las Vegas. Die Revues am Palast halten den Spagat zwischen Zeitgeist und dem Geschmack älterer Leute, die Karten sind billiger als an privaten Musicalbühnen, oft werden auf einen Schlag vier und mehr bestellt. Tradition, das ist so wie ein Zuhause. Der Friedrichstadtpalast ist das letzte Familientheater der Stadt.

Regisseur Jürgen Nass ist so lange am Haus, wie es an der Friedrichstraße steht. Auch er war gekündigt und wurde von Iljinskij zurückgeholt. Gemeinsam haben sie die Show zum 20-jährigen Jubiläum gemacht. Nass hat sich alle Vorstellungen noch einmal auf Video angesehen. Ein Großteil seines Lebens ist da vor ihm Revue passiert, er hat Tänze und Szenen neu bearbeitet. Jürgen Nass macht keine Nummernprogramme mehr. Seine Shows haben einen Anfang und ein Ende. Sie erzählen Geschichten. Sie strahlen. Sie füllen mit ihrer Musik den Raum. Nach der Premiere spielt das Ensemble die Geschichten dreihundertmal, jeden Tag, mit einer Sommer- und einer Weihnachtspause. Das Orchester braucht täglich jeden Musiker. Für Sänger gibt es keine Zweitbesetzungen. Wird jemand krank, steht er auf der Bühne und bewegt wenigstens seinen Mund zum Play-back. Die Artisten dürfen sich einfach nicht verletzen. Das Ballett trainiert vormittags fürs nächste Programm und tanzt abends das aktuelle. Alle 44 Tänzerinnen und 23 Tänzer sind auf der Bühne, fällt jemand aus, müssen die anderen die Lücke schließen. Die Bühne, auf der das Ensemble des Friedrichstadtpalastes steht, ist wie die Stadt: ohne doppelten Boden. Es gibt nicht mehr den Star und dazu ein buntes Programm. „Der Star ist das ganze Theater“, sagt Jürgen Nass.

Als Guido Herrmann im Jahr 2000 ans Haus kam, hat er die dunklen Treppenhäuser, Flure und Türen streichen lassen. „Ich wollte den Kollegen zeigen, dass es hell wird“, sagt er. Er hat den Zuschauerraum neu gemacht, bald will er die Fassade reinigen. Der Erfolg des Hauses soll strahlen. 306 Leute arbeiten noch hier. „Ein stehendes Heer, das sich nur auf eines konzentriert: dass Unterhaltung Arbeit ist“, sagt der Fotograf Jim Rakete, der viele Bilder am Palast gemacht hat. „Die Aufgaben, die sich das Ensemble stellt, sind technische Superlative. Niemals kapituliert irgendjemand vor den Ablaufplänen.“ Lediglich beim Wort Subventionen zuckt man im Friedrichstadtpalast zusammen. Man rechnet mit dem aufrichtigen Bemühen des jetzigen Kultursenators, auf den Sachverstand der Abgeordneten, auf Glück. Jedoch sollte man in Berlin derzeit auf kein Pferd setzen. Guido Herrmann rechnet durch. Er bestellt Achim Kujawa und Jürgen Nass zu sich, weil sie noch mehr sparen sollen. Die Männer disponieren schweigend um. Herrmann merkt, dass es nicht einfach Ideen sind, die sie aus der Show nehmen. „In der Stille spüre ich, wie sie sich von Träumen verabschieden“, sagt er.

Am 31. August soll nach amerikanischen Vorbild ein „Walk of Fame“ zur Verewigung von Schlagerstars und Revuegrößen vor dem Friedrichstadtplalast entstehen. Doch der eigentliche Ruhm des Hauses ist immer noch live.

Gegen Ende eines jeden Arbeitstages spannt sich die Girlreihe über die ganze Bühnenbreite. Darauf hat das Publikum gewartet. Es übernimmt die Spannung. Es regt sich, es tobt. „Dieses Haus ist ein Mikrokosmos“, sagt Jim Rakete „Es hat die klassische Stärke der Wiedervereinigung.“ Das Orchester scheint lauter zu spielen, das Licht heller zu strahlen. Die Mädchenreihe will links und rechts nicht enden. Als würde sie sich hinter der Bühne fortsetzen, auf der Friedrichstraße. Als würden sich 306 Körper, 612 Beine, um den Palast spannen.

NADJA KLINGER, Jahrgang 65, ist bei der Suche nach der Berliner Varietee-Szene auf den Friedrichstadtpalast gestoßen