Die Musik hat die Stadt vollkommen im Griff

Die Filmfestspiele von Locarno im Zeichen von Jazz führten dazu, dass sich die Straßen der Stadt in eine Disco-Meile verwandelten, jede noch so kleine Bar mit DJ oder Band protzte. Der Goldene Leopard für den pakistanischen Film „Khamosh Pani“ sorgte dann für musikalische Gerechtigkeit

Manchmal braucht es keinen Ton, um eine Stimmung einzufangen

Ein feines Liegestühlchen, ein laues Lüftchen, in der Hand den obligatorischen Campari-Soda und dann noch dieser hinreißende Ausblick auf die Tessiner Berge mit dem aufgehenden Vollmond: Alles hätte so schön sein können auf meinem Hotelbalkon in Locarno. Doch schon zu Beginn verdichteten sich erste unheilvolle Zeichen.

Zur Eröffnung verkündete Festivalleiterin Irene Bignardi, dass dieser Jahrgang ganz im Zeichen der Musik stehe, und programmierte zum Auftakt Vincente Minellis Musicalklassiker „The Band Wagon“ aus dem Jahr 1953. In einer aberwitzigen Film-noir-Nummer steppt Fred Astaire auf den Spuren von Mickey Spillane. Wenn er nachts mit Cyd Charisse durch den New Yorker Centralpark spaziert, schauen die beiden verlegen aneinander vorbei, während ihre Füße schon im Gleichschritt über den Boden gleiten. Beschwingt von dem romantischen Pas de deux und der Sehnsucht nach einem Absacker tänzelten wir nach der Vorführung in Richtung Seepromenade und wurden schon nach wenigen Metern von einer laut dröhnenden Latino-Band jäh wieder auf den Boden der Tatsachen geholt. Die Straßen von Locarno haben sich in eine Disco-Meile verwandelt, jede noch so kleinste Bar protzt mit DJ oder Band. Zu Ehren der Retrospektive „All that Jazz“ findet jede Nacht genau unter meinem Hotelfenster eine Jam-Session statt.

Die Musik hat die Stadt vollkommen im Griff. Sie übertönt das sanfte Plätschern am Ufer des Lago Maggiore und belästigt die wunderbare Bergkulisse mit jazzigem Gequäke, so als sei man im falschen Film. In den richtigen Filmen – das muss man leider feststellen – war es dann auch nicht viel anders. Immer wieder musste der Soundtrack nachhelfen, wurde das Lebensgefühl per Knopfdruck mit dem passenden Song abgerufen, erzählte der Score eine völlig andere Geschichte oder verdoppelte sie.

Zum Beispiel in „Das Wunder von Bern“: Ja, wir wissen, dass der 3:2-Triumph der Deutschen über Ungarn 1954 mehr als nur ein Weltmeisterschaftssieg war. Wir wissen, dass uns Helmut Rahn damals geradewegs ins Wirtschaftswunder kickte und dass wir plötzlich wieder wer waren. Aber muss Sönke Wortmann die entscheidenden Fußballzüge des Endspiels deshalb gleich mit einer Schlachtenmusik unterlegen, wie man sie nur aus miesen amerikanischen Kriegsfilmen kennt?

Und wenn man einen Film über Johann Sebastian Bach dreht, warum dann noch eine eigene Filmmusik anfertigen lassen? In Dominique de Rivaz’ Regiedebüt „Mein Name ist Bach“ treffen der Barockkomponist (Vadim Glowna) und Friedrich II. (Jürgen Vogel) aufeinander, eine historische verbriefte Begegnung, aus der das „Musikalische Opfer“ hervorgegangen ist. Sobald Bach mit den Noten jongliert, die Takte leise vor sich hinpfeift, das Kino also beginnt, der Musik bei der Arbeit zuzusehen, zerstört ein unerträglich schmalziger Klangteppich die barocke Szenerie.

Warum eigentlich immer die Bedudelung? Manchmal braucht es keinen Ton, um eine Stimmung einzufangen oder zu unterstreichen, entsteht der Rhythmus eines Films allein über die Gangart der Protagonisten. Und die ist Martin Rejtmans Gesellschaftskomödie über eine Hand voll Loser im heutigen Buenos Aires gehörig aus dem Takt geraten. Einem einigermaßen normalen Alltag hinken die jungen Helden von „Los Guantes Mágicos – Die magischen Handschuhe“ nur noch hinterher. Auf einer Parkband tauscht man Anti-Depressiva und ersinnt hirnspinstige Geschäfte. Indem die Kamera immer etwas länger als nötig auf den Gesichtern verweilt, fängt sie Leere und Trauer ein, den Moment, der nach dem eigentlichen Ausdruck kommt. Rejtmans Lakonie bildet ihren eigenen Takt, umfängt die Figuren und lässt ihre Szenen mit mitfühlender Komplizenschaft ausklingen.

Vielleicht entsprach es in dieser Locarno-Ausgabe einer Art musikalischer Gerechtigkeit, dass der pakistanische Wettbewerbsbeitrag „Khamosh Pani – Silent Water“ mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet wurde. Sabiha Sumars Film folgt der Islamisierung eines Dorfes im ländlichen Pakistan zu Beginn der Achtzigerjahre. Unaufdringlich gelingt es der Regisseurin, ihren Soundtrack in den Alltag einzubinden. So geht von Gebetsgesängen der islamischen Fanatiker eine ungeheure Wut aus, die sich bedrohlich über das sanfte Tal zu legen scheint. Bei den Hochzeiten hingegen entwickeln die Gesangsrituale des Koran eine fast schon ausgelassene Fröhlichkeit. Sikh-Gesänge, ein schwieriges Mutter-Sohn-Verhältnis, ein furchtbares Geheimnis und brutale Frauenopfer verbinden sich in diesem Film zu einer unendlich komplizierten politisch-religiösen Gemengelage, die erahnen lässt, dass die Auseinandersetzung mit dem Fanatismus erst begonnen haben kann.

Einmal habe ich mir in diesem Jahr freigenommen vom Locarno-Lärm. Mit der Seilbahn und einem Picknickkorb voller Tessiner Spezialitäten fuhren wir in die Berge. Unter uns schrumpfte die vor sich hindudelnde Stadt zu einem fernen Pünktchen. Ganz idyllisch war es oben dann doch nicht. Man kann tatsächlich gegen Kuhglöckchenklingeln allergisch sein. ANKE LEWEKE