Stohler und Fischer im Bett

Bücher für Randgruppen: Die Ethnologin Barbara Lüem dokumentiert die Geschichte der Schweizer Hochseeschifffahrt

Das klingt schon merkwürdig: Schweizer Hochseeschifffahrt. Deshalb scheint es schon ein Glücksfall zu sein, dass die Ethnologin Barbara Lüem auf ein verschollen geglaubtes Fotoarchiv stieß. Das Archiv der schweizerischen Reederei und Neptun AG, das die alte Geschichte der Rhein- und Hochseeschifffahrt dokumentiert. Diese reicht eigentlich bis in die fotolose Römerzeit hinein. Im 18. Jahrhundert segelten Schweizer Kaufleute sogar auf eigenen Schiffen. Aber erst 1941 wurde aus der Not heraus – der neutralen Schweiz stand Frachtraum auf englischen Schiffen nicht mehr zu Verfügung – eine eigene Hochseeflotte aufgebaut. Die gibt’s bis heute.

In vier Kapiteln untersucht die Autorin Fragen nach dem Wie und Warum der Flotte, nach den Schiffstypen, die vom Hochseehafen Basel aus die Welt befahren, und nach den Menschen, die damit zu tun haben. Das Resultat ist ein ausgesprochen interessantes und spannendes Werk, welches historische Informationen, private Dokumente Schweizer Seefahrer und persönliche Eindrücke auf angenehmste Art und Weise verbindet. Da findet sich ein Tagesrapport, der akribisch genau die Krankmeldungen des Dampfers auflistet „Stohler, Fischer und Stiefel im Bett“, weiter die Anzahl verteilter Textilcoupons und die Nachricht: „Kreienbühl Max wird Ruhe befohlen, weil er über Halsstarre klagt.“ Zauberhafte Schwarzweißfotografien von Jean-Luc Cramatte dokumentieren das Hafengelände und Stillleben aus dem Innern der Gebäude in der Art eines Tagebuchs – fast könnte man meinen, die Bilder stammten aus einer anderen Zeit, so ruhig, ernst, klar und dabei immer ein bisschen melancholisch wirken sie.

Tatsächlich aber hat es kaum Veränderungen in den Hafenanlagen gegeben. Die klassischen Kräne, Greifer und Pumprohre sind geblieben und die Behältnisse für die verschifften Waren scheinen in den Jutesäcken und Ballen längst eine ideale Grundform gefunden zu haben, so Barbara Lüen. Nur die Container und die unsichtbare Elektronik seien neu dazugekommen.

In den Protokollen von an der Schweizer Hochseeschifffahrt beteiligten Steuermännern und Rudergängern erfahren wir von einem unbekannten Berliner Großmaul an Deck, das seine Kollegen mit Kreidegraffiti am Arbeitsplatz zum Schweigen bringen wollten: „Hier schweigt der Berliner!“ Ein früher Fall von Mobbing, der – neutral wie die Schweiz – vom Vorgesetzten mit „Hier schweigt auch der Schweizer!“ beantwortet wird.

In der fast ausschließlich von Männern dominierten Schweizer Rheinfahrt kommen Frauen nur als Boot vor: Schleppboote werden nämlich immer und konsequent „die Boot“ genannt. 26 Schiffe umfasst mittlerweile die junge Flotte, und wer sie alle kennen lernen will, schaut im Internet nach unter www.swiss-ships.ch. Der Beruf eines Seemanns bietet sicher auch Gelegenheit, der gemütlichen Enge des behüteten Landes zu entfliehen und etwas zu sehen, was den Schweizern sonst verborgen bliebe. Beispielsweise die seltenen Elbetrischli, eine in wilden menschenleeren Uferregionen des Rheins lebende Tierart, die wie Kaninchen mit kleinen Geweihen aussehen.

Das ansprechend und sorgfältig gestaltete Werk zeigt dieses vermutlich mit dem bayerischen Wolpertinger eng verwandte Tier nicht, wohl aber erlaubt es uns einen Blick in private Fotoalben der Zunft, die sogar eine eigene Sprache entwickelt hat, nämlich den schiffischen Wortschatz der Schweizer Rheinschiffer. Da wird beispielsweise der Mond, der die Navigation in der Baslerfahrt erleichtert, einfach zur heimatlichen „Schweizersonne“.

WOLFGANG MÜLLER

Barbara Lüem: „Heimathafen Basel“. Christoph Merian Verlag, Basel 2003, 264 S., 300 Abb. (Duplex), 46 €