Bloß nicht nach Pullach!

Das bayerische BND-Städtchen sollte möglichst weiträumig umfahren werden

Dem Pullacher geht es in erster Linie nicht um Abgrenzung oder Schutz, sondern um Blickdichte

Zugegeben, die Frage ist berechtigt: Warum sollte man das überhaupt, nach Pullach fahren? Schließlich ist Pullach nur ein südlicher Vorort Münchens, am westlichen Isarhochufer gelegen. Die Antwort lautet: Eben drum! Denn jeder, der auf dieser Seite des Flusses aus der Stadt Richtung Alpenvorland bzw. Berge fährt, der muss durch Pullach durch. Oder doch bereits verwarnungspflichtig dicht daran vorbei. Und schon an dieser, die eigentliche Örtlichkeit nur tangierenden Ausfallstraße lauert der Pullach’sche Ungeist.

Mag sein, dass in irgendeiner fernen Vergangenheit das Dörfchen einmal einen Reiz besessen hat – heute ist davon nicht mehr das Geringste zu bemerken. Selbst der Ortskern, in dem tatsächlich noch einige ältere Häuser stehen, hat diese unsäglich dezent-volkskundliche Umgestaltung erfahren, die immer mehr um sich greift und offenbar die einzig konsensfähige Möglichkeit ist, das Ursprüngliche zu ertragen. Ein bisschen Lüftlmalerei, der obligatorische Maibaum, ein Biergarten mit apostrophenreicher Speisekarte („Wos Kräftig’s g’fällig?“) – fertig ist sie, die neubayerische Idylle. Oder jedenfalls das, was die Pullacher dafür halten.

Doch das eigentliche Grauen beginnt jenseits des Ortskerns und umschließt ihn in mehreren Belagerungsringen: die Pullacher Eigenheimhölle. Um sie richtig deuten zu können, muss man wissen, dass der Nobelvorort Grünwald gleich gegenüber liegt, auf der anderen Seite der Isar. Man ist sogar durch eine Brücke mit ihm verbunden. Und mit den Reichen. Und den Bedeutsamen. Und den Viertelberühmten. Das ist dann aber auch schon alles. Denn anders als diese auch überregional bekannt gewordene Derrick-Mördergegend ist Pullach dann doch entschieden weniger vornehm, genauer und vor allem wahrer: auf eine popelige Weise popeliger als das Münchner Geldghetto. Sind die Geschmacklosigkeiten geschmackloser Reicher in Grünwald doch immerhin aus soziologischen Gründen sehenswert, bleiben die Pullacher Bemühungen, es ihnen nachzutun, blankes Mittelmaß. Denn schlimmer als ein Kleinbürger ohne Geld ist ein Kleinbürger mit ein bisschen Geld. Ersterer schafft es erst gar nicht in den feinen Münchner Süden, sondern treibt in verkappten Kleingartensiedlungen im Osten, Westen oder – ganz arg! – Norden der Stadt sein Unwesen. Der Kleinbürger mit ein bisschen Geld aber wird Pullacher und tut und fühlt fortan wie ein Grünwalder. In Köln nennen sie so was schlicht „schäl Sick“ – falsche Seite.

Und so reihen sich denn flächendeckend aneinander: Wüstenrot mit Schnitzbalkon, Schwäbisch Hall mit Panoramafenster hinaus auf den Wendehammer und geraniengeschmückte Carports. Alles schön ordentlich, geharkt, gemäht und gut gekehrt. Und noch eins haben all diese pseudoalpinen Lebensträume gemeinsam: das Trennende. Hecken, Holzwände, Zäune, Mauern – kein Anwesen, das nicht komplett und akkurat eingegattert wäre. Ist doch überall so? Keineswegs! Denn dem Pullacher geht es in erster Linie nicht um Abgrenzung oder Schutz, sondern um Blickdichte. Das machen die drüben in Grünwald nämlich auch so, damit auch ja keiner neidisch werden kann. Die Pullacher Umrechnung dieser Abschottungsformel lautet also durchaus folgerichtig: Je mannshoher die Barrikade, desto neidwürdiger der Besitz. Wobei gelegentlich eine gewisse Ambivalenz, ja geradezu ein Dilemma sichtbar wird: Irgendwie will man seinen Besitzstand ja auch vorführen. Was zur Folge hat, dass auch die Pullacher Abschirmmaßnahmen etwas zutiefst Unentschiedenes und mithin Bizarres, ja Groteskes haben.

Die Vokabel „Abschirmmaßnahmen“ verweist auf einen möglichen weiteren Grund für diese Mauermentalität. Schließlich hat in Pullach seit Jahren auch der Bundesnachrichtendienst BND seinen Sitz. Der hat sich bzw. sein Gelände mit einer schönen, hohen Mauer umfriedet. Übermannshoch. So ein Ding jeden Tag zu sehen kann labile Gemüter mit ein bisschen Geld schon auf Ideen bringen.

Inwieweit die signifikant hohe Rate an Spitzeln und Spionen in irgendeiner Form mentalitätsprägend für die örtliche Bevölkerung war und ist, kann hier nicht abschließend beurteilt werden. Eindeutig deformierend wirkten aber offenbar die Schilder, die alle paar Meter an der BND-Mauer kleben und davor warnen, diese Mauer zu fotografieren. Wer es dennoch tut, muss angeblich 10.000 DM bezahlen. Warum jemand eine Mauer fotografieren wollen sollte, steht hier nicht zur Debatte. Vielleicht ist es aber genau das Bizarre, schwer Nachvollziehbare dieses Verbots, das den einen oder anderen Pullacher nachhaltig durcheinander bringt. Ausdrücklich gewarnt sei jedenfalls vor einem etwa sechzigjährigen Mann, der mit einer grünen Plastikgießkanne spazieren geht und offenbar auf freiwilliger Basis die Altpapier- und Glascontainer an der eingangs erwähnten Ausfallstraße bewacht.

Dort lauerte er eines Sonntagabends der Autorin dieses Berichts auf, als diese auf der Heimfahrt vier Weinflaschen und eine Tüte Zeitungen entsorgte, die an einem schönen Ausflug ins Alpenvorland hatten teilnehmen dürfen. Sie hatte ihn wegen des Verkehrslärms nicht heranschleichen hören und erschrak zu Tode, als er sie aufforderte, laut vorzulesen, was auf den Containern stehe: „Nur werktags 7 bis 19 Uhr“. Dann hieß er sie „Saupreußin“ und „Gesindel“. Da wünschte sie ihm höflich einen schönen Abend und stieg wieder in ihr Auto. Der Mann lief feuerrot an, fuchtelte mit seiner Gießkanne vor der Windschutzscheibe herum und brüllte schließlich: „Ich zeig Sie an. Das kostet 50.000 Mark!“

Das muss doch Euro heißen, dachte sie und fuhr weg von diesem Mann, der aussah, als bekomme er gleich einen Herzinfarkt, und daran wollte sie nicht schuld sein. Wegen vier Weinflaschen!

Niemand sollte diesen Ort betreten. Am besten noch nicht mal aussteigen. Und auf gar keinen Fall versuchen, Zäune oder Hecken zu fotografieren.

BARBARA HÄUSLER