Der Fluch des Essigsyndroms

Und wie man ihm entkommen kann: Die junge Disziplin der Filmrestaurierung entwickelt Methoden und Kriterien, wie das sensible Material Film vor dem Verfall bewahrt werden kann. So bleibt Filmgeschichte verfügbar. Aber wer trägt die Kosten?

Ein „Code of Ethics“ regelt den Umgang mit rarem Filmmaterial

von ANDREAS BUSCHE

Das Material, aus dem Kino gemacht wird, ist unwiderstehlich. Die Körnung der Bilder, die Kontrastierung des Lichts, die Intensität von Farben und Musik haben schon Generationen von Filmkritikern zu poetischen Höhenflügen veranlasst. „Nicholas Ray ist Kino“, hat Jean-Luc Godard gesagt, als er noch Filmkritiker war – und ihm später sein filmisches Werk gewidmet.

Wie viel Kino das Werk eines einzelnen Regisseurs sein kann, hat kürzlich die erste komplette Nicholas-Ray-Retrospektive im Pacific Film Archive in Berkeley gezeigt. Rays Filme haben alles, wovon das Kino lebt. Gerade deshalb waren sie immer schon besonders anfällig. Die Folgen waren während der Retrospektive unübersehbar. So stand eine rotstichige Kopie von Rays farbenprächtigem Bibelfilm „King of the Kings“ einer kristallinen, in ihrer perfekt rekonstruierten Hypernatürlichkeit fast surrealistisch anmutenden Kopie von „Johnny Guitar“ gegenüber. Magenschmerzen bereitete vielen Zuschauern die in Schweden aufgefundene und bemitleidenswert ramponierte Kopie von „The Lusty Man“. Standing Ovations hingegen gab es für eine krispe, liebevoll restaurierte Kopie von „They Live by Night“. Und doch konnte dieser Höhepunkt nicht darüber hinwegtäuschen, welch schweren Stand die Filmkunst – und nicht nur die Nicholas Rays – heutzutage hat. Sie löst sich buchstäblich auf.

Neuen Konzepten der Bestandspflege wird heute nicht nur in filmwissenschaftlichen Kreisen immer größere Bedeutung beigemessen. Denn es geht unter anderem darum zu zeigen, dass sich Filmpräservation und -restaurierung nicht ausschließlich mit der Vergangenheit befassen, sondern im Gegenteil ein noch sehr junges Arbeits- und Forschungsfeld bilden. Das befindet sich auf dem jüngsten Stand der digitalen Technik, und seine kulturelle Bedeutung ist im Informationszeitalter immens. Das Kino mag zwar per se kein aussterbendes Medium sein, seine Daten jedoch, die Filme nämlich, befanden sich immer schon auf vergänglichen Trägern.

Das größte Problem der Filmarchive besteht derzeit darin, dass die neu entwickelten digitalen Sicherungsmedien, die das Lagern großer Datenmengen ermöglichen, schneller obsolet sind, als die Archivare und Restauratoren weltweit mit der Sicherung der gigantischen Bestände an Originalkopien nachkommen können. Dietrich Schüller, der Direktor des Österreichischen Klangforschungsarchivs und Mitarbeiter der Unesco-Studie „A Philosophy of Audiovisual Archiving“ (1998), sagt, dass heute bereits 80 Prozent aller Stummfilme und mehr als die Hälfte aller Tonfilme für die Nachwelt verloren seien. Ein Verfall, der sowohl die marginalen Werke der Filmgeschichte als auch Hollywood-Klassiker wie „The Sound of Music“ betrifft, der zurzeit von der American Academy wieder in präsentable Form gebracht wird. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.

Der Impuls zum Restaurieren ging im Wesentlichen von den großen Hollywood-Konzernen aus, allen voran Sony. Sie erkannten Mitte der 80er-Jahre, dass die Filmbestände aus der Studio-Ära langsam zerfielen. Dies betraf nicht nur das äußerst empfindliche und leicht entflammbare Nitrozellulose-Material, auf dem bis in die 50er-Jahre gedreht wurde, sondern im selben Maße auch die vermeintlich sichereren Acetat-Filme der letzten fünfzig Jahre, auf die man nach der Verbannung der explosiven Nitro-Filme aus den Lichtspielhäusern umstieg.

Das auf Acetatzellulose basierende Filmmaterial erwies sich zwar als weit weniger feuergefährlich, war aber wie der Nitro-Film chemisch nicht sehr beständig. Schlechte Lagerzustände wie Hitze und Feuchtigkeit haben über die Jahre bei vielen Kopien das so genannte „Vinegar Syndrome“ hervorgerufen, bei dem eine der Essigsäure verwandte Substanz vom Material freigesetzt und von dort auf andere Kopien übertragen wird. Erst in den 80er-Jahren gingen die Filmlaboratorien dazu über, Polyester als Filmmaterial für Sicherungskopien zu verwenden.

Die wissenschaftliche Disziplin Filmrestaurierung befindet sich heute an einem entscheidenden Wendepunkt. Da die erste Expertengeneration sich ihr Handwerk noch selbst beibringen musste, fehlten ihr lange ein professionelles Selbstverständnis sowie ein kritisches Rahmenwerk im Hinblick auf theoretische, methodische und ethische Fragen, das die jahrezehntelangen beruflichen Erfahrungen schließlich in einem fundierten Programm, einer Art Philosophie, zusammengefasst hätte.

Hier ist in den letzten Jahren vor allem in den Filmarchiven selbst wichtige Basisarbeit geleistet worden. Der Internationale Zusammenschluss von Filmarchiven (FIAF) verfügt seit einigen Jahren über einen dezidierten Satzungsbeschluss, den „Code of Ethics“, der, basierend auf der Unesco-Studie von 1998, allen Mitgliedern klare Richtlinien im Umgang mit seltenem Filmmaterial vorgibt. Ganz oben auf der Liste steht der Schutz der Integrität des Materials sowie der Schutz gegen jede Form der Manipulation, Verstümmelung, Verfälschung oder Zensur. Der „Code of Ethics“ ist heute ein verbindlicher Standard, der auch in den führenden Filmpräservationsprogrammen an der Universität Los Angeles (UCLA) und der Jeffrey Selznick School am George Eastman House in Rochester, New York, gelehrt wird.

Wer aber zeichnet nun für die Pflege des Filmbestandes verantwortlich? Und wer kommt für die anfallenden Kosten auf? Die belaufen sich immerhin auf knapp 40.000 US-Dollar pro restaurierter Kopie; 100 Jahre materialgerechter Lagerung würden pro Kopie mit etwa 4.500 Dollar zu Buche schlagen. Kulturpolitisch wurde Film schon immer weniger als universales Gut denn als nationales Erbe betrachtet. Aber der Staat hat ganz andere Sorgen, als sich mit dem verblichenen Andenken seiner Filmgeschichte zu befassen – besonders dann, wenn es ihn Geld kostet. Der Filmrestaurator Martin Körber, der unter anderem für die digitale Restauration von Fritz Langs „Metropolis“ (2001) verantwortlich zeichnet, sieht die Grundlage für einen verantwortungsvollen Umgang vor allem darin, dass das Bewusstsein für Film als kulturhistorisch relevanter Kunstform hoch entwickelt ist. Dieses Bewusstsein muss notwendigerweise nationale Interessen überwinden.

Interessanterweise ist solch ein kulturelles Bewusstsein aber besonders in solchen Ländern stark ausgeprägt, in denen eine nationale Filmkultur von einer einflussreichen und potenten Filmindustrie Rückhalt erfährt. In Europa gilt das vor allem für Frankreich, in geringerem Maße auch für England und Italien. Dass die partikularen nationalen Interessen Hand in Hand mit einem universalen, in den Filminstitutionen weltweit kultivierten Bewahrergeist gehen, war maßgeblich für die rasanten Fortschritte, die in den letzten zehn Jahren auf dem Feld der Filmrestauration zu verzeichnen sind.

Die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Retrospektive auf der diesjährigen Berlinale war ein gelungenes Beispiel für solch eine internationale Kooperation. Nicht zuletzt die enge Zusammenarbeit der Friedrich-Wilhelm Murnau-Stiftung, die seit ihrer Gründung 1966 den nach dem Zweiten Weltkrieg von den Westalliierten beschlagnahmten Filmstock der ehemals reichseigenen Produktionsgesellschaften UFA, Universum Film, Bavaria, Tobis und Terra verwaltet, mit dem National Film and Television Archive des British Film Institute, der 20th Century Fox, dem L'Immagine Ritrovata in Bologna und anderen Institutionen gewährleistete den Erfolg der Retrospektive und der begleitenden Panels.

Und wer bezahlt die Rechnungen, die durch solche aufwändigen Restaurierungsprojekte anfallen? Eine Frage, die die prekäre Situation der Filmrestaurierung in Deutschland verdeutlicht. In den USA befinden sich von jeher sowohl Filmrechte als auch Filmmaterial in solventer privater Hand, nämlich in der der Hollywood-Studios. Diese verfügen über Möglichkeiten, die Budgets für ihre Archive sowohl mit Einnahmen aus aktuellen Titeln als auch durch den immer noch boomenden amerikanischen DVD-Markt, der mit Filmklassikern noch längst nicht gesättigt ist, abzudecken. Allein Sony restauriert im Jahr fast 300 Filme aus dem Bestand. Deutschland dagegen verfügt nicht über eine vergleichbare Filmindustrie; so bleibt es finanziell schwach ausgestatteten Institutionen wie der Murnau-Stiftung oder dem Filmmuseum München überlassen, die historisch-wissenschaftliche Arbeit mit der Filmgeschichte zu pflegen.

Die Murnau-Stiftung hat in dieser Hinsicht erste Schritte unternommen, die Pflege des Filmstocks zu professionalisieren. In enger Zusammenarbeit mit der Transit Film GmbH arbeitet die Stiftung daran, die kommerzielle Auswertung ihres Rechtebestandes durch gewerblichen Kinoverleih, eine weitreichende Video- und DVD-Vermarktung sowie den Lizenzhandel mit TV-Sendern und Vertriebsfirmen im Ausland zu verbessern. Die im April veröffentlichte Edition von deutschen Stummfilm-Klassikern, zu der neben vier Murnau- und drei Lang-Filmen auch „Der Golem“ und Joe Mays „Asphalt“ gehören, war das erste Großprojekt, mit dem die Murnau-Stiftung die filmrestaurative Arbeit in Deutschland internationalen Maßstäben angleichen will. Manche Experten meinen, dass es höchste Zeit ist.

Denn nur, wenn Filmgeschichte sichtbar bleibt, schärft sich das Bewusstsein für die Bedeutung des Films als künstlerischer Gestaltungsform. Wenn die Bilder aus der – wie es im Jargon der Unesco heißt – „World Memory“ gelöscht sind, bleibt nichts als ein flackernder Schein auf leerer Leinwand.