Beschreibung eines Krampfes

Blumfeld, ein Junggeselle mittleren Alters, trifft sich mit einer Hamburger Band zum Gespräch im Hotel. Leider geht alles schief, was nur schief gehen kann, und die Begegnung gerät zum traumatischen Erlebnis. Eine Kurzgeschichte im Stil von Franz K.

von ANDREAS MERKEL

Blumfeld, einem Junggesellen mittleren Alters, kam es so vor, als läge es wieder alles an ihm. Die Stadtbahn, die ihn zum Bahnhof bringen sollte, von wo aus er in eine andere Stadt fahren wollte, um mit einer Gruppe von Musikern ein Gespräch zu führen, kam nicht. Wenn man, dachte Blumfeld, seine Wohnung längere Zeit nicht verließ, machte man Fehler. Man vergaß zum Beispiel, mit den Unregelmäßigkeiten im öffentlichen Nahverkehr zu rechnen; seit zwanzig Minuten wartete er jetzt schon in der Mittagshitze auf die Stadtbahn. Wie um den Schwierigkeitsgrad dieser Situation extra für Blumfeld noch zu erhöhen, dröhnte hinter einem Zaun höllisch bohrender Baulärm hervor.

Blumfeld machte sich Vorwürfe, er hätte doch lieber die Untergrundbahn zum Bahnhof nehmen sollen, oder gleich ein Taxi. Zum Glück hatte er seine Wohnung so rechtzeitig verlassen, dass er sich für seine übertriebene Vorsicht fast selbst verspottet hätte – aber mit diesem Spott war es jetzt vorbei, angesichts der Verspätung, mit der die Stadtbahn schließlich doch kam und ihn zum Bahnhof brachte, auf dass er seinen Zug gerade noch bekam und sich einen Fahrschein dann eben beim Schaffner würde nachlösen müssen. In dem Abteil, in welches Blumfeld eingestiegen war, suchte er sich unter den zahlreichen noch freien Plätzen umständlich denjenigen aus, von dem er hoffte, sich dort am Ungestörtesten auf das Gespräch vorbereiten zu können. Es dauerte eine ganze Weile, bis der verschwitzte Blumfeld sich beruhigt hatte und über seine, wie er es inzwischen aus einer Laune heraus vor sich selbst nannte, Mission nachdenken konnte.

Die Musiker, die er treffen würde, hatten eine neue Schallplatte aufgenommen und ihm ein Exemplar zuschicken lassen. Er hatte sich die Musik mehrfach angehört; es waren Lieder, die angenehm und belanglos klangen, während der Sänger mit klarer, heller Stimme von gewichtigeren Dingen wie der Liebe oder dem Leben in den Städten sang. – Auf der Rückseite der Schallplatte gab es eine Fotografie von den Musikern, welche diese mit einigen Freunden beim Picknick im Freien zeigte. Aus der Fotografie heraus lächelte der Sänger den Betrachter wissend an, als würde er einen geheimen Schmerz ganz allein für sich aushalten, so dass man vielleicht zu fragen berechtigt wäre, was es denn da zu lächeln gab … Aber das waren Dinge, die man schlecht jemanden fragen konnte, und Blumfeld hatte eine kurze, aber tief empfundene Vorahnung von der absoluten Nutzlosigkeit seiner Mission. In jedem Fall war er bereits ausweglos in die ganze Angelegenheit verstrickt; Blumfeld würde einen Bericht darüber schreiben, der dann, so war es geplant, in einer Zeitung erscheinen sollte.

Auf freiem Feld hielt der Zug plötzlich. Blumfeld ahnte sofort die Verzögerung, noch bevor diese vom Schaffner durchgesagt werden konnte, und zwar auf unbestimmte Zeit. Ein Unfall oder Gleisarbeiten an der Strecke, es wurde um Verständnis gebeten. Der reisende Blumfeld nutzte die Zeit bis zur jeweils nächsten, ergebnislosen Durchsage des Schaffners, indem er es bereute, nicht schon einen früheren Zug genommen zu haben. Mit jenem, in welchem er sich befand, wäre er, pünktliches Eintreffen am Zielort vorausgesetzt, eine Stunde vor Beginn des Gespräches in der anderen Stadt angekommen. Er hätte jedoch besser daran getan, wusste Blumfeld jetzt, einen Zug zu nehmen, mit dem er zwei, ja drei Stunden früher ebendort hätte ankommen können. Gleichwohl, für all das war es zu spät: Erst die Stadtbahn, dann der Zug, und schließlich, so Blumfeld vor sich selbst, ich.

Als der Stillstand des Zuges den Reisenden gerade endgültig unerträglich zu werden drohte, ging es weiter. Der Schaffner konnte nun immerhin die Dauer der voraussichtlichen Verspätung mit anderthalb Stunden beziffern, so dass Blumfeld sich zu dem einzigen Fernsprechapparat an Bord des hoffnungslos unpünktlichen Zuges begeben konnte, um in dem Gasthof anzurufen, in welchem er die Musiker zu treffen gedachte. Insgeheim hoffte er vielleicht, durch seine Verspätung könnte das Gespräch nicht mehr stattfinden, hätten die Musiker keine Zeit mehr, würde sich kein anderer Termin mehr finden lassen. Aber Blumfeld hatte sofort eine auskunftsberechtigte Person am Apparat, welche ihm freundlich, ja väterlich mitteilte, alles kein Problem, die Musiker wären bereits zugegen, sie führten schon seit Stunden Gespräche über ihre Musik, mit Leuten wie Blumfeld, er solle sich halt vom Bahnhof direkt und so schnell wie möglich in den Gasthof begeben und man würde ihn erwarten. Er bedankte sich und hängte ein.

Blumfeld betritt den Gasthof und das Zimmer, in dem die Musiker ihn bereits erwarten. Es ist ein schöner, großer Raum, in einem der oberen Stockwerke des Gasthofs gelegen, jemand hat die Fenster geöffnet, und ein leichter Wind bewegt die hell schimmernden Vorhänge. Die späte Nachmittagssonne scheint durch sie hindurch und veredelt alles mit ihrem Licht. Es ist ein Zimmer, in dem man sich gemeinsam freuen, in dem man miteinander befreundet sein möchte. Alles an diesem Ort lädt einen dazu ein, die Dinge gut zu finden. Gut, so wie sie sind, und nicht scheiße.

Aber Blumfeld ist nicht danach. Er beginnt das Gespräch mit einer Unverschämtheit, einem Vergleich, der die Musiker beleidigt.

Sofort kippt die eben noch freundliche Stimmung um in ein Missverständnis von Meinungen, die nun beide Parteien – Musiker auf der einen, Blumfeld auf der anderen Seite – gegeneinander ins Feld führen wie Beweise, mit denen sich alles weitere kategorisch ablehnen lässt. Ob man den Gesetzen des Marktes gehorchen solle und inwieweit man das schon gemacht habe. Ob es andere Musiker gebe, von denen man sich beeinflussen lasse oder die man vielleicht sogar selbst beeinflusst habe. Oder ob man das alles ernsthaft bestreiten wolle und sich selbst zu sperrigen Idolen gemacht habe, die keine Frage mehr so verstehen müssen, wie sie einmal gemeint war.

Aber schließlich ist Blumfeld in keiner Position, sich zu streiten: Es geht doch um Musik, sagt er sich immer wieder, Musik, die andere gemacht haben und die ich nur schlecht zu finden brauche. Und die Musik auf der Schallplatte der Musiker hat auf Blumfeld gewirkt wie ein hymnisches Versprechen, ein vorwurfsvoller Trost, dass doch noch alles gut werden würde. Aber auch wie der lasche Händedruck eines alten Bekannten, der sich nicht mehr interessiert und sich auch nicht mehr ärgern will. Zeitweilig hat Blumfeld sich beim Anhören der Schallplatte sogar gefühlt, als würde er bereits in einem Sanatorium liegen und dort die alten Schlager im Radio hören. Die meisten Lieder haben romantische Titel und Botschaften gehabt, und der Sänger hat sie gesungen wie eine Mutprobe, damit man ihm auch glaubt. Dass er gerne lebe. Dass die Welt schön sei.

Aber die Welt ist nicht schön, wendet Blumfeld jetzt ein. Sie ist vielleicht auch nicht hässlich, aber sie ist garantiert nicht schön, nicht mal in einem Lied (und sei es nur, weil es Menschen gibt, die dieses Lied nicht mögen) … – Die Musiker indessen verweisen auf andere Lieder, auf frühere Schallplatten von ihnen und fordern den großen Zusammenhang, in dem man das alles zu sehen habe.

Aber Blumfeld wird es da schon müde, zu all dem überhaupt noch eine Meinung zu haben, wen interessiert so etwas schon. Es will ihm scheinen, als könne nichts mehr für sich selbst bestehen.

Auch die Musiker wirken müde, aber immer noch bemüht, ihm zu erklären, wie sie die Dinge sehen: Namentlich der Sänger, dessen angenehme Stimme bald so klingt, als würde er der Welt und hier vor allem Blumfeld etwas sehr Kompliziertes möglichst einfach erklären, streng und definitiv. Die Fingernägel seiner rechten Hand sind spitz zugefeilt, fällt Blumfeld auf, und er wirft ihm vor, dass er ihm kein Wort glaubt. So macht man sich keine Freunde, denkt er, und er hat seinen Teil dazu beigetragen. Er hat sich hier nur unmöglich gemacht, Blumfeld hat genug davon.

Zum Abschied geben die Musiker Blumfeld kaum die Hand. Sie wirken gar nicht überängstlich, aber so, als suchten sie immer noch und mit zu viel Zartgefühl ihre wirklichen oder scheinbaren Rechte zu wahren.

„Jenseits von Jedem“, das neue Album von Blumfeld, erscheint am 5. September bei Zickzack/eastwest. Die Erzählung „Blumfeld, ein älterer Junggeselle“ ist unter anderem in Franz Kafkas „Sämtliche Erzählungen“ im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen.