So werden Sie Genießer …

von SABINE HERRE

1. Werfen Sie Ihre Kalorientabellen, Diätbücher und Ernährungsratgeber in den Müll. Die Halbwertszeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse über das, was unserem Körper angeblich gut tut, wird so oder so immer kürzer. So galt, daran erinnert sich fast jedes Kind, Spinat lange als besonders gesund. Weil er viel Eisen enthalte. Bis jemand herausfand, dass den Lebensmittelforschern bei ihren Messungen das Komma um eine Stelle zu weit nach rechts gerückt war und man auf diese Weise den Eisengehalt verzehnfacht hatte. Glück im Unglück hatten dabei die Kinder. Denn eine finnische Studie hat inzwischen festgestellt, dass zu viel Eisen eine Ursache für Herzerkrankungen ist.

2. Vergessen Sie alle Bio-, Fleisch- oder sonstigen Gütesiegel für Lebensmittel. Zwar sind seit der BSE-Krise besonders die grünen Abgeordneten im Europarlament damit beschäftigt, sich immer neue Richtlinien zum Schutz der Verbraucher auszudenken. Doch eine Rundumversicherung gegen alle Risiken kann es nicht geben. Da ist schon die Lebensmittelindustrie vor, die ständig neue Produkte mit neuen Zusatzstoffen auf den Markt wirft. Und eigentlich wollen Sie ja auch keine allmächtigen Brüsseler Bürokraten, die vorschreiben, mit welchem Lab der französische Hirte seine Milch für den Käse zum Gerinnen bringt. Und wer hat schon die Zeit, die kleingedruckte Auflistung der Inhaltsstoffe in Fertigprodukten zu entziffern. Sparen Sie sich diese Zeit, Sie werden sie gleich brauchen. Zum Essen.

3. Üben Sie das Essen. Was uns fehlt, sind nicht Informationen über Lebensmittel, gefragt ist vielmehr praktische Kompetenz. Daher machen Sie jetzt ein Experiment. Dafür brauchen Sie zwei freie Abende.

Am ersten kochen Sie eines Ihrer Lieblingsgerichte, setzen sich vor den Fernseher und essen. Ganz normal, so wie Sie das immer tun.

Am zweiten Abend kochen Sie erneut Ihr Lieblingsgericht. Doch diesmal bleibt der Fernseher aus. Sie konzentrieren sich ganz aufs Essen und machen das ganz, ganz langsam. Wenn Sie alles richtig machen, werden Sie am zweiten Abend viel schneller satt sein als am ersten. Denn wer zu schnell isst und wer abgelenkt ist, registriert die Sättigungssignale, die sein Körper aussendet, zu spät und isst mehr.

Bei Untersuchungen hat man festgestellt, dass Zwanzigjährige gut 60 Minuten am Tag mit Essen verbringen. Bei Sechzigjährigen sind es dagegen 90 Minuten, also 50 Prozent mehr. Warum das so ist, weiss man bisher nicht. Vermutet jedoch wird, dass junge Leute mehr Fast-Food-Produkte essen als ältere. Und diese enthalten Glutamat, einen Geschmacksverstärker, der den Appetit anregt. Mahlzeiten mit Glutamat werden schneller gegessen und darum nimmt man dann eben auch größere Mengen zu sich. Was besonders die Lebensmittelkonzerne freut. Deshalb verwenden sie ihr E 621 ja auch so großzügig.

4. Essen Sie weiter. Diäten misslingen, weil sie den Genuss verbieten. Sie denken ständig an das, was Sie nicht essen dürfen. Und essen es dann schließlich doch. Mit schlechtem Gewissen. Diät macht traurig und manchmal auch dumm. Denn man denkt immer nur an das Eine – ans Abnehmen. Damit ist jetzt Schluss. Gehen Sie in den Supermarkt und kaufen Sie all das, was Sie sich sonst nicht gönnen. Schokolade, Chips. Sie wissen schon. Und dies essen Sie dann, solange wie es Ihnen Spass macht. Allzu lange wird dieses Vergnügen jedoch nicht dauern. Denn Sie werden sich schon bald nach einem frischen Salat sehnen. Auf Mangelerscheinungen reagiert der Körper mit der Entwicklung entsprechender Gelüste. Damit sind Sie nun reif für den nächsten Schritt.

5. Gehen Sie kosten. Aber nicht in den nächsten Discounter, sondern auf den Markt. Dort ist es inzwischen möglich, die Produkte, die man gern kaufen möchten, auch zu probieren. Das geht im Übrigen auch in guten Lebensmittelgeschäften. Die Bauern erzählen Ihnen meist gern, wie sie ihren Käse herstellen, was sie in ihre Wurst tun. So lernen Sie jede Menge über gutes und weniger gutes Essen. Außerdem trainieren Sie Ihre Geschmacksnerven, werden bei all dem Probieren satt und sparen so auch noch Geld. Womit wir beim nächsten Thema wären.

6. Ersparen Sie sich Ausreden. Der Gang zu Aldi und Penny wird immer wieder damit begründet, dass man sich das Einkaufen in anderen Geschäften oder sogar im Bioladen nicht leisten könne. Dabei sinken die Preise für Lebensmittel – sieht man einmal von der Euroeinführung ab – seit Jahren. So kostete eine Zehnerpackung Eier im Jahr 2000 ganze 40 Prozent weniger als 1992. Um 500 Gramm Kaffee zu kaufen, musste ein Industriearbeiter 1949 über 22 Stunden arbeiten, heute sind es 22 Minuten. Noch nie gab der Bundesbürger so wenig seines Monatsbudgets fürs Essen aus. Es sind gerade noch 14 Prozent, nur wenig mehr als für den Bereich Freizeit/Unterhaltung/Kultur.

Außerdem muss gutes Essen nicht teuer sein. Vor zwei Jahren versuchte ein Mitglied von SlowFood, der „internationalen Vereinigung für fröhliche Genießer“ , vom Sozialhilfesatz für Ernährung zu leben. Einen ganzen Monat lang mit nur 8,71 Mark (4,45 Euro) pro Tag. Verboten waren Konserven, erlaubt nur frische Produkte. Das war zwar schwierig, man brauchte mehr Zeit zum Kochen, aber es ging. So entdeckte der Proband, dass ein Pfund Brot beim Industriebäcker 1,02 Euro kostet, die gleiche Menge selbstgebacken dagegen 20 Cent. Ein Demeter-Suppenhuhn fand er nach dem sorgsamen Studium von Sonderangeboten für 3,83 Euro, und kochte daraus zwei Liter Hühnerbrühe. Nur zum Vergleich: 0,5 Liter Bihunfertigsuppe kosten 2,47 Euro.

Das Ergebnis des Tests: Ein saftiges Filetsteak vom Rind konnte sich das SlowFood-Mitglied ebensowenig leisten wie das gewohnte Viertel Wein am Tag. 4,45 Euro reichten jedoch nicht nur für Müsli mit frischen Früchten und Kartoffel-Linsentopf, sondern auch noch für Pan Bagnat mit Salat Nicoise. Er hätte sie natürlich auch für drei Currywürste oder vier Hamburger ausgeben können.

7. Schenken Sie Ihre Mikrowelle Ihrem größten Feind. Sobald Sie wissen, wie gut und auch noch preiswert frische Produkte sind, werden Sie gern auf Pizza oder Nasi Goreng aus der Tiefkühltruhe verzichten. Und auch die Ein-Minuten-Terrine lockt nicht mehr. Schluss mit Aufreißen, Reinbeißen, Fettwerden. Die immer zahlreicher auf den Markt kommenden Convenience-Produkte enthalten nämlich von allem entweder zu viel oder zu wenig. Zu viel Fett, zu viel Salz, zu wenig Vitamine und Mineralstoffe.

Bei Ihrer neuen Ernährungsweise müssen Sie freilich auf einiges verzichten. Auf den Zusatzstoff Zartin zum Beispiel. Diese „multifunktionale pulverförmige Gütezusatzkombination hat die positive Eigenschaft Lake renditesteigernd einzulagern“, heißt es in der Beschreibung des Convenience-Anbieters. Und es entgeht Ihnen der „praxisbewährte Frische- und Farbstabilisator PÖK, der mit einem optimalen Anteil von Ascorbinsäure dem Vergrauen von Obst und Gemüse vorbeugt“.

8. Gehen Sie shoppen. Sie haben es geschafft. Sie essen nur, solange Sie Lust haben. Sie essen nur, auf was Sie Lust haben. Sie wollen den Genuss, und Sie können maßhalten. Sie sind ein Genießer. Und, so Gero von Randow in seinem Werk „genießen. eine ausschweifung“: „Genuss schwächt nicht, Genuss macht schön und stark, innen und außen.“ Oder, wie Susie Orbach in „Lob des Essens“ schreibt: „Anders essen macht eine gute Figur.“ Ob das stimmt, können Sie jetzt selbst feststellen. Und Geld für einen Kleiderneukauf (Größe M) haben Sie auch noch.