Wille zur Wohlanständigkeit

Schwamm drüber: Alle können sich darauf einigen, Ronald Schills Performance von dieser Woche als Selbstouting eines Durchgeknallten zu werten. Und? Ist das gut so?

„Ja, bin ich denn inzwischen die einzige Normale hier?“ Dieser schöne Stoßseufzer, so erzählte es ein als Krankenpfleger arbeitender Freund, entfuhr vor Jahren einer älteren Patientin, als sie aus der Zeitung von Inge Meysels lesbischen Jugenderfahrungen erfuhr. Ach, gerne würde man wissen, was sie jetzt angesichts der Berichterstattung über die neuesten Hamburger Ereignisse so denkt: Vom Homosexuellsein muss sie sich ja derzeit geradezu umzingelt fühlen.

Selbstouting ja oder nein, Bundespräsidentschaft okay oder nicht okay – die Nation diskutiert die spezifischen Probleme schwuler Politiker genauso selbstverständlich wie die Gesundheitsreform. Gleichzeitig schaltet die Bild-Zeitung mal eben darauf um, nur positive Vorurteile über Homosexuelle zu verbreiten und fragt, ob Schwule gar die besseren Politiker seien. Kann schon sein, dass sich unsere Dame wieder einmal sehr einsam fühlt: die einzige Normale, die sich von Homofragen noch in ihrem heterosexuellen Selbstverständnis herausgefordert fühlt. Alle anderen Normalen üben sich derzeit in Liberalität und affirmative action; wenn man bedenkt, dass noch in den Achtzigerjahren ein schwuler Bundeswehrgeneral als so erpressbar angesehen wurde, dass er in seinem Amt als nicht haltbar galt, darf man gesellschaftliche Fortschritte registrieren.

Aber, mal im Ernst, was ist eigentlich mit Ronald Schill? Alle scheinen sich darauf einigen zu können, seine Performance von dieser Woche als endgültiges Selbstouting eines Durchgeknallten zu werten (und wer wollte da auch widersprechen?). Seine eigene Partei grenzt ihn offenbar erfolgreich aus, und Ole von Beust – dessen Sympathiewerte eher noch gestiegen sind – lässt verlauten, dass er am liebsten nie mehr etwas mit ihm zu tun haben wolle. Also Schwamm drüber?

Hm. Ohne jetzt hier den Feuilletonisten heraushängen zu wollen, konnte man sich bei dem Herrn Schill ja durchaus an all die meistens amerikanischen Filme und Bücher erinnert fühlen, die in scheinbar normalen Kleinstädten und Vororten spielen. Gerade der bedingungslose Wille zur Ordnung und Wohlanständigkeit zeitigt dort gelegentlich sehr seltsame Phänomene, Psychopathen inklusive – und, unter uns, hatte Schill auf der Pressekonferenz nicht was von Dennis Hopper in „Blue Velvet“?

Also, die Umstandslosigkeit, mit der Ronald Schill gerade entsorgt wird, kann einen, wenn Sie mich fragen, schon skeptisch machen. Hat die Taktik der Boulevardmedien, die Schill-von-Beust-Geschichte als Pro-Schwulen-Story zu drehen, nicht zum Beispiel eine Entlastungsfunktion? Die Dramaturgien von Aufstieg, Hybris und Fall eines Mannes, der Ordnung schaffen wollte, lägen auch bereit. Die nehmen sie aber nicht. Ganz klar: Weil sie sonst über die eigene Verstrickung mit dem Phänomen Schill einige Worte verlieren müssten. Und, wichtiger: Weil die Frage aufkommen könnte, ob es nicht der beinharte Wille zur Wohlanständigkeit, Sauberkeit, Ordnung und Normalität selbst war, der hier durchknallte.

DIRK KNIPPHALS