Die Komödie der Gutmütigkeit

Lidokino (2): In „Anything Else“, Woody Allens Eröffnungsfilm der Filmfestspiele von Venedig, geht es um die Verwicklungen, die sich aus der Unfähigkeit ergeben, das Wort Nein zu sagen. Tolles Geplatter – das wiederum Raoul Ruiz’ Barthes-Porträt fehlt

von CRISTINA NORD

Beim Striptease, schrieb Roland Barthes, „wird die ursprüngliche Provokation des Vorhabens vom Dekor, den Accessoires und der Stereotypie durchkreuzt und von ihnen schließlich in Bedeutungslosigkeit gezogen: Man stellt das Böse zur Schau, um ihm besser den Weg zu versperren und es besser beschwören zu können.“ Sie könnten an dieser Stelle einwenden: Was soll die Bildungshuberei am Morgen? Und Recht hätten Sie, wäre der Film, um den es hier geht, weniger begierig, sich an Barthes’ Brust zu werfen. Doch „Une place parmi les vivants“ („Ein Platz unter den Lebenden“), Raoul Ruiz’ Beitrag zum Controcorrente-Programm, liebt das direkte Zitat: Ein Striptease, hört man aus dem Mund des Protagonisten Ernest, sei nicht etwa die Vorbereitung, sondern das Gegenteil von Sex. Also sprachen die „Mythen des Alltags“.

Nun stellt sich „Une place parmi les vivants“ bei der Hommage an den französischen Theoretiker nicht besonders geschickt an. Im Zeitkolorit – Ruiz lässt den Film im Paris der 50er-Jahre spielen – geht alle Provokation verloren. Von einem gewissen Jean-Paul ist oft die Rede in den Dialogen; die Figuren tragen schwarze Rollkragenpullover, wenn sie männlich, und schwingende Pettycoats, wenn sie weiblich sind. Sie geben sich Mühe, existenzialistische Romane zu verfassen, und scheitern an ihren Schreibhemmungen. In der Folge kommen andere Figuren gewaltsam ums Leben, blonde junge Frauen, die alle schon einmal Bekanntschaft mit dem Handwerk des Striptease gemacht haben. Ruiz hat sich dafür entschieden, dem Film möglichst wenig Licht, Kontur und Farbe zu geben, sodass „Une place parmi les vivants“ ausschaut wie ein zu oft gewaschenes, grau verschleiertes Kleidungsstück. Am Ende sitzen die Toten wie in Sartres „Das Spiel ist aus“ unter den Lebenden und unterhalten sich über die Hölle. Die sieht vermutlich anders aus als in Ruiz’ Fantasie. Doch dafür gibt das nun eine schöne Überleitung: Ein Buch von Sartre wechselt nämlich im Eröffungsfilm den Besitzer. In Woody Allens Komödie „Anything Else“ erhält die junge Hauptfigur, Jeffry Falk (Jason Biggs), von seiner Freundin Amanda (Christina Ricci) das Stück „Die Fliegen“, als die beiden den Jahrestag ihrer ersten Begegnung feiern.

Doch sind es keine Rachegöttinnen, die Falk heimsuchen, sondern seine Gutmütigkeit und die Unfähigkeit, das Wort Nein hervorzubringen. Falk, ein Comedy-Autor mit schriftstellerischen Ambitionen, ist allerlei selbst gewähltem Unheil ausgesetzt: einem Psychoanalytiker, der, einer Sphinx gleich, neben der Couch sitzt, einem Agenten, der ihm nichts nutzt, einer Freundin, die ihn mit ihren Launen malträtiert, einem Freund namens Dobel (von Allen selbst gespielt), der ihn zum Kauf russischen Kriegsgerätes nötigt.

Was passiert, wenn die Bindungen, die man eingeht, zu Dingen führen, die man nicht will? Wenn Gefühle und Bedürftigkeiten auf eine Weise kreisen, dass man ihrer beim besten Willen nicht Herr wird? Für Allen ist das der beste Komödienstoff, und er schlägt viel Kapital daraus. „Anything Else“ zieht alle rhetorischen Register: Welche Sätze führen einen Redner in die Defensive? Welche sorgen dafür, dass er die Situation beherrscht? Das ist ein nicht abreißender Wortstrom, reich an Pointen, Anspielungen und aberwitzigen Einfällen. Einmal zum Beispiel beichtet Amanda Jeffry einen Seitensprung. Sie lässt kein Detail aus: wie sie es mit ihrem Lover im Vatikan tat und, während sie zur Decke emporblickte, nur an Jeffry dachte. Sex unter den Fresken von Adams Erschaffung, dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies: Woody Allens Fantasie kennt wenig Grenzen.

Die Kulisse dafür liefert ein lichtes, sommerliches New York. Denkt man an die New-York-Bilder aus jüngeren Filmen wie Spike Lees „25th hour“ oder Joel Schumachers „Phone Booth“, so fällt auf, mit wie wenig Bedeutung Allen die Stadt auflädt. Lieber bleibt er seinem Bild von Manhattan treu, einem urbanen Locus amoenus. Sanfter Wind spielt mit dem Laub im Central Park, das Licht fällt durch Blätter und Äste und malt Schatten auf die Figuren, die Wohnungen sind gemütlich, nur einmal flattert ein Fähnchen mit Stars and Stripes an der Antenne eines Jeeps. Und dann ist da noch Dobel mit seiner Wut, aber das ist eine andere Geschichte: „The issue is always fascism“, sagt er, der ohne Survival Kit keinen Schritt tut und keine Pointe zu Ende führt, ohne an den Holocaust zu erinnern.

Wenn „Anything Else“ an etwas leidet, dann daran, dass die Situationskomödie wenig Möglichkeiten bietet, den Raum filmisch zu erschließen. Dem theatralischen Prinzip – das durch brechtsche Unterbrechungen noch forciert wird – kann Darius Khondji als Director of Photography wenig entgegensetzen. Man nimmt es hin, hört man doch das tolle Geplapper – und weiß, was bei Ruiz’ nicht minder theatralischem Film fehlte.