Die Wünsche der Übersetzer

Lidokino 3: Fremdsein ist nicht immer ein Gewinn. In Kabul trat die iranische Filmemacherin Samira Makhmalbaf auf wie ein reicher Onkel. Ein Lob der Differenz dagegen ist Jacques Doillons „Raja“

von CRISTINA NORD

Wer dem Rhythmus der Filmfestspiele folgt, hat gelegentlich das Vergnügen, bei dem einen Festival den Spielfilm und beim nächsten das making of zu sehen. Bei Catherine Breillats „A ma soeur“ und dem anschließenden „Sex is Comedy“ war das so, und nun hat sich auch die Familie Makhmalbaf zur Zweitverwertung entschlossen. Nachdem die 22 Jahre alte Samira Makhmalbaf in Cannes „Panj e asr“ („Fünf Uhr nachmittags“) vorgestellt hat, zeigt nun die noch jüngere Schwester Hana in Venedig im Rahmen der Settimana della critica die dazugehörige Dokumentation „Lezate divanegi“ („Die Freuden des Wahnsinns“). Sie hat die Schwester mit der Handkamera begleitet, als diese in Kabul die Laiendarsteller für „Panj e asr“ castete. Natürlich ist Mohsen Makhmalbaf, Vater und Kopf der iranischen Filmdynastie, mit von der Partie.

Das Ergebnis ist ein wackliger Film. Man sieht die schwarz gewandete Samira, wie sie im Kleintransporter einen Mullah beschwatzt, damit er eine Rolle annimmt. Als er zögert, bezichtigt sie ihn wort- und gestenreich der Lüge. Später diskutiert sie mit Frauen, ob die sich eine weibliche Präsidentin vorstellen können. „Benazir Butto war die schlimmste Präsidentin, die Pakistan je hatte“, ruft eine Alte und lässt sich von ihrer Haltung nicht abbringen – auch dann nicht, als Samira Makhmalbaf beharrt: „Frauen verursachen keine Kriege.“ Sind hier die Filmemacher naiver als die, die sie filmen wollen?

Fremd scheinen ihnen die Kabuler Verhältnisse in jedem Fall zu sein. Vom Ablauf der Zeit zum Beispiel haben die afghanischen Laiendarsteller eine andere Vorstellung als Samira Makhmalbaf, für die Zeit sich in Drehtagen und damit in Geldbeträgen misst. Manchmal tritt sie auf wie ein reicher Onkel aus Amerika. Dem Verlobten einer potenziellen Darstellerin verspricht sie, dass man ihm ein Visum für den Iran besorgen werde, einer anderen Darstellerin, dass sie berühmt und die ganze Welt bereisen werde. „1.000 Zeitungen“, prahlt die junge Regisseurin, hätten schon über sie geschrieben. Fast fragt man sich, ob ihr die jüngere Schwester Böses tun will, indem sie all das in „Lezate divanegi“ aufnimmt.

Eine Art reicher Onkel taucht auch anderswo auf. Jacques Doillons Wettbewerbsbeitrag „Raja“ arbeitet mit einer solchen Figur. Zunächst noch meint man, Doillon wolle Houllebecqs These aus dem Roman „Plattform“ illustrieren, dass in einer postkolonialen Welt die einen das Geld, die anderen die Körper haben und sich daraus ein für alle Beteiligten glückliches Tauschgeschäft entwickelt. Doch rasch ändert sich die Perspektive. Indem Doillon die Situation des Tausches hartnäckig durchexerziert, findet er zu der Houllebecq entgegengesetzten Position. Denn man kann nicht umhin zu sehen, wie der Handel an allen Ecken und Enden knirscht.

„Raja“ spielt in Marokko. Fred, ein älterer Junggesselle aus Frankreich (Pascal Greggory), treibt Müßiggang. Sein Anwesen ist so groß, dass es den ganzen Film über neue Räuume hervorbringt. Fred scherzt mit seinen Köchinnen (Oum El Aid Ait Youss und Zineb Ouchita), er liest Italo Calvino und flaniert durch den Laubengang. Bald verliebt er sich in Raja, eine 19 Jahre alte Waise und Gelegenheitsprostituierte (Najat Benssallem), die in seinem Garten Unkraut jätet. Sie braucht Geld, er hat es im Überfluss, er kann sich bewegen, ihre Wege sind vorherbestimmt, sie versteht wenig Französisch, er wenig Arabisch.

Das führt zu interessanten Übersetzungsszenen; nicht das Gesagte, sondern das von den Übersetzern Gewünschte wird übertragen. Die komplizierete Gefühlslage wird von Doillon so eingefangen, dass die Widersprüche über die Eindeutigkeit triumphieren.

Nie kann sich der Zuschauer in Sicherheit wähnen: Spielt Raja mit Fred? Spielt er mit ihr? Begehrt sie ihn? Liebt er sie? Die Körper finden für Sekunden zueinander, um einander dann wieder abzustoßen. Ähnlich unstet ist die Kamera. Wenn die Figuren im Streit hin- und hergehen, folgt sie nervös. „Ich bin nicht käuflich!“, ruft Raja einmal, im nächsten Augenblick ist sie sich darüber nicht mehr sicher.

„Raja“ hält immer gegenwärtig, dass Fred und Raja sich auf neutralem Terrain nicht begegnen können. Wenn sie einander außerhalb des Anwesens treffen, wird sofort eine Schlägerei daraus, bei der Raja die Stärkere ist. Keine der beiden Figuren ist ausschließlich Nutznießer oder auschließlich Ausgebeutete. Beide ringen mit den Verhältnissen, proben, wie weit sie gehen können und wo Grenzen verlaufen. Doillon schaut ihnen dabei zu, ohne leichtfertig Partei zu ergreifen. Seine Ungerührtheit, die feine Unruhe der Kamera und das Licht von Marrakesch machen aus „Raja“ den ersten Höhepunkt des Festivals.