Mit Ratten zahlen

Nur Gedichte spenden Hoffnung: Don DeLillo versucht mit seinem neuen Roman „Cosmopolis“, die abstrakte Erscheinungsform von Globalisierung und Kapital mit den Lebensrealitäten abzugleichen

von HARALD FRICKE

Es gibt Ereignisse, die größer sind als das Leben. Der Tod von John F. Kennedy zum Beispiel, damit kann man Bücherregale füllen. Belletristik wohlgemerkt, Sachbücher gar nicht erst mitgerechnet.

Offenbar hatte man von Don DeLillo erwartet, dass er sich in seinem neuen Roman „Cosmopolis“ zu den Attentaten vom 11. September äußern würde. Hat er aber nicht, weshalb ihm bei der Veröffentlichung in den USA vorgeworfen wurde, sich zwar mit dem Verlust von Utopien zu beschäftigen, doch konkrete Probleme wie Terrorismus auszuklammern. Als herausragender Chronist und Beobachter Amerikas sei er von den Ereignissen überholt worden: Wer über Verschwörungstheorien, politische Konflikte und soziale Gewalt schreibt, dürfe zu den Schrecken von New York nicht schweigen.

Dabei ist das Leben, das DeLillo in „Cosmopolis“ beschreibt, für einen New Yorker Apriltag im Jahr 2000 sehr ungewöhnlich. Obwohl der mit Börsentipps handelnde Jungmilliardär Eric Packer nur zum Frisör will, werden auf seinem Weg durch die Stadt vier Menschen sterben. Er wird in eine Demonstration von Globalisierungskritikern verwickelt sein und wegen eines Besuchs des US-Präsidenten ständig im Stau stehen. Er wird an der Beerdigung eines Rappers teilnehmen, wird eine schmerzhafte Prostata-Untersuchung haben und nebenbei mit drei Frauen schlafen. Und er wird am Ende auf dem High-Tech-Display seiner Armbanduhr zusehen, wie er durch eine Kugel aus der Pistole eines enttäuschten Exangestellten stirbt. Das ist ohne Frage ein umfangreiches Programm.

Auf den ersten Blick scheint sich in der auf 200 Seiten verdichteten Tour de Force eine von irrwitzig schnell fließenden Geld- und Informationsströmen geprägte Welt zu spiegeln. Ein Patchwork aus Wolkenkratzern, Fashion-Stores und Edelrestaurants, deren Fassaden sich vor getönten Limousinenfenstern abspulen wie ein Brian-de-Palma-Film – langsame Schwenks, schwelgerische Weitwinkeleinstellungen und brutale Zwischenschnitte auf Details. Seitenlang bleibt DeLillo bei einem Demonstranten, der sich aus Protest anzündet, „und die Haut des Mannes wurde dunkel und blasig, und das roch man jetzt auch, eine Mischung aus verbranntem Fleisch und Benzin“.

Anders als etwa Brett Easton Ellis sucht DeLillo solche Bilder nicht bloß als Schock, um die mediale gegen die gelebte Wirklichkeit auszuspielen. Er will, da ist er ganz ein Kind der Sixties, immer noch hinter die Oberflächen, will das aufbrechen, was sich als Terror der Verdinglichung zeigt. So heißt es nach dem Freitod wenig später: „Der Markt war nicht total. Er konnte diesen Mann nicht für sich beanspruchen oder seine Tat in sich aufnehmen. Nicht etwas so Krasses, Schreckliches.“

In diesen Sätzen liegt schon der Schlüssel zu DeLillos strategischem Erzählen, das er in „Cosmopolis“ mal als atemlose Action, dann wieder in depressiv-existenzialistischen Meditationen entfaltet. Wenn er Packers Mörder bekennen lässt, dass wir ständig unverbundene Systeme – „Spiegel und Bilder. Oder Sex und Liebe“ – zu verknüpfen suchen und daran scheitern, dann ist sein neuer Roman genau dies: der Versuch, die abstrakte Erscheinungsform von Globalisierung und Kapital mit den Lebensrealitäten abzugleichen.

Tatsächlich will DeLillo herausfinden, wie der Markt als lebendiger Organismus funktioniert. Nur so lässt sich zwischen Mensch und Geld kommunizieren, nur so bleiben komplexe und zugleich chaotische Organisationen wie die Börse beherrschbar. Weil er den Yen nicht versteht, führen Packers Transaktionen in die Katastrophe. Danach ist sein gewaltsamer Tod nur eine Koda, das Nachbild eines Scheitern an dem Unvermögen, die ökonomischen Verhältnisse in den Griff zu bekommen, so wie ihm auch die Lust am Leben überhaupt entglitten ist. Unentwegt scheinen alle Gedanken bei DeLillo um diese nie glückende Koppelung zu kreisen. Hoffnung gibt es nur in Gedichten. Sie allein können noch Dinge im jeweiligen Augenblick offenlegen, „auf deren Wahrnehmung er normalerweise nicht vorbereitet war“. Einmal gibt es einen solchen Aufprall bei DeLillo, als die Globalisierungsgegner nach dem Sturm auf die Börse den Ticker umprogrammieren. Dann erscheint auf dem Display die Zeile „Eine Ratte wurde zur Währungseinheit“ aus Zbigniew Herberts Gedicht „Aufzeichnungen aus einer belagerten Stadt“.

Kurz zuvor hatten die Demonstranten noch eine wenig überraschende Marx-Variation zum „Gespenst des Kapitalismus“ gesendet. Vermutlich liegt für DeLillo im Wechsel vom Kommunistischen Manifest zum Poem über das Warschauer Ghetto das entscheidende Mehr an Verzweiflung. Dass selbst die New Yorker Wirtschaftselite im Strudel der globalen Märkte nicht überleben kann, macht DeLillos „Cosmopolis“ dann doch zu einem Buch, das sich konkret mit den Ängsten im 21. Jahrhundert beschäftigt. Es muss ja nicht immer 11. September 2001 sein.

Don DeLillo: „Cosmopolis“. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003, 204 Seiten, 16,90 €