Lust und Leid des Babyboomers

Bill Clinton repräsentierte als erster Politiker die „neue Mitte“. Seine Erfolge, findet Joe Klein, werden verkannt

Die Formel der „Neuen Demokraten“ war: „linksliberale Zwecke, konservative Mittel“

Er galt als Hoffnungsträger, politisches Naturtalent, Visionär und ist doch so schmählich gescheitert: Bill Clinton, der Mann, dessen Sexualpraktiken eine junge Praktikantin weltweit berühmt machten; der Politiker, der zum ersten Mal seit über 50 Jahren für die Demokratische Partei eine zweite Amtsperiode gewann; der Präsident, der sich vor drei Jahren auch noch mit einem Amtsenthebungsverfahren durch das Repräsentantenhaus konfrontiert sah.

Was von seiner achtjährigen Regierungszeit einmal in den Geschichtsbüchern vermerkt sein wird, dürfte mehr als mager sein. Zu dieser Einschätzung kommt zumindest einer der intimsten Kenner der Clinton-Jahre, der US-Journalist Joe Klein in „Die verkannte Präsidentschaft Bill Clintons“. Dabei könne Clinton durchaus beachtliche Erfolge vorweisen, die von seinem Nachfolger, George W. Bush, teilweise bereits wieder zunichte gemacht worden sind.

So gelang es Clinton in seiner Amtszeit etwa, den Bundeshaushalt zum ersten Mal seit Jahrzehnten schuldenfrei zu machen, die Arbeitslosenrate auf einen historischen Tiefstand zu drücken und das Einkommen einer breiten Mittelschicht um über ein Drittel zu steigern. Trotz rigider Haushaltspolitik verstand er es zugleich, der republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus einige Sozialprogramme abzuringen. Der große Wurf blieb ihm allerdings versagt: eine Gesundheitsreform, die allen US-Amerikanern eine obligatorische Krankenversicherung gebracht hätte – „zweifellos sein größter Misserfolg“, so Klein.

Er präsentiert Clinton als das erste Staatsoberhaupt, das auf dem Ticket der „neuen Mitte“ Wahlen gewonnen hat, vor Tony Blair und Gerhard Schröder. Die politische Formel der so genannten Neuen Demokraten war: „linksliberale Zwecke durch konservative Mittel“ erreichen. Dabei ging es vor allem darum, trotz restriktiver Haushaltspolitik und zeitweiliger Haushaltssperre gerade den Ärmeren in der Gesellschaft Freiräume zu verschaffen. Bei der Kinderbetreuung etwa – öffentliche Kindergärten sind Mangelware in den USA – führte Clinton Steuergutschriften für die Kita-Ausgaben ein.

„Aufgabe der radikalen Mitte“ war es nach Klein, „einen Wohlfahrtsstaat für das Informationszeitalter zu schaffen, einen Staat, der anerkennt, dass der Staat zwar notwendig ist, sich aber selbst zurücknehmen kann, wenn er sich die Leistungsfähigkeit der Märkte zu Nutze machen kann“. Ein Satz, der auch vom SPD-Generalsekretär Olaf Scholz stammen könnte.

Clinton musste von Anfang an ohne Hausmacht in der eigenen Partei regieren, misstrauisch beäugt von den „Alten Demokraten“, dem linken Flügel in der Partei. Doch selbst in den schwersten Zeiten, wie etwa dem Lewinsky-Skandal, bescheinigten ihm Umfragen immer wieder eine große Unterstützung des Wahlvolks – soweit es seine politischen Leistungen betraf.

Nicht von ungefähr bezeichnet Klein den Politiker Bill Clinton als ein Naturtalent (im Original „The Natural“). „Als öffentlicher Darsteller war er faszinierend, mitreißend, wie von einem anderen Stern … Seine Auftritte besaßen eine fast sinnliche Qualität …, er schien zu spüren, was seine Zuhörer brauchten … Seine ernsthafteren politischen Gegner fühlten sich ständig entmutigt durch seine Lebhaftigkeit und waren entsetzt über seine schillernden Gelüste.“

Klein muss es wissen. In seinem 1996 anonym erschienenen Roman „Primary Colours“ (auf Deutsch unter dem Titel „Mit aller Macht“ erschienen) hatte er bereits die ganze Bandbreite Clinton’scher Charaktereigenschaften angedeutet: klug, harmoniesüchtig, entscheidungsarm, charmant, detailversessen, fixiert auf Meinungsumfragen, maßlos, moralisch nicht gefestigt. Die vorherrschende Enttäuschung am Ende seiner Amtszeit führt Klein auf das verbreitete Gefühl zurück, „dass hier ein Talent vergeudet, eine große Chance verpasst worden“ ist.

„Clinton hatte das Glück, in so friedlichen Zeiten zu amtieren, Zeiten, zu deren Gelingen er durch seine wirtschafts- und innenpolitischen Entscheidungen unzweifelhaft beigetragen hat. Doch für ihn war es nicht nur Glück, denn er wurde nie vor eine Herausforderung gestellt, in der er seine eindrucksvollen Stärken hätte unter Beweis stellen können, und das Fehlen einer solchen Herausforderung ließ seine bedauerlichen Schwächen noch deutlicher hervortreten“, schreibt Klein mit Blick auf den 11. September 2001.

Dennoch: „Er bleibt der überzeugendste Politiker seiner Generation“, meint Klein angesichts der anderen „Babyboomer“, jener Männer „aus den Vorstädten“ also, die meist „nie auf die Probe gestellt worden waren“, bevor sie in die Politik gingen. Klein unterstellt dieser nicht mehr vom Zweiten Weltkrieg geprägten Generation „eine kollektive Unreife“ sowie fehlende „Weitsicht und Weisheit, die die Erfahrung schwerer Zeiten mit sich bringt“.

Darin sieht er einen der Gründe für die zunehmend rüden Umgangsformen im politischen Washington, wo „Skandale um teils lächerliche Vergehen zu den bestimmenden Ereignissen des öffentlichen Lebens“ geworden sind. Klein beschreibt es als einen seit den 80er-Jahren herrschenden „erbitterten, verdeckten Krieg“ zwischen Demokraten und Republikanern, in dem es meist nur um den „Eindruck von unangemessenem Verhalten“ ging. „Der Angriff gegen Clinton war der unvermeidliche Höhepunkt einer irrationalen Hetzkampagne – das politische Gegenstück zu den Hexenprozessen.“ An vorderster Front der Republikaner stand stets der zeitweilige Sprecher des Repräsentantenhauses, Newt Gingrich, der schließlich selbst wegen „unethischen“ Verhaltens sein Amt aufgeben musste.

In den USA hat derweil der Kampf um die nächste Präsidentenwahl schon begonnen. Doch statt das Stimmungstief von Amtsinhaber George W. Bush zu nutzen, zerfleischen sich seine potenziellen Herausforderer bei der oppositionellen Demokratischen Partei lieber gegenseitig. Ein Kandidat, der wie Bill Clinton 1992 die weißen Mittelklasse-Familien in den Vorstädten und im Süden des Landes – und damit die entscheidenden Wähler – für sich vereinnahmen könnte, ist nicht in Sicht.

Clinton selbst ist mit 57 Jahren bereits damit beschäftigt, seinen Nachruhm zu organisieren. Dafür tingelt er als gut bezahlter Vortragsreisender durch die Welt und sammelt Geld für die geplante Clinton Presidential Library in Little Rock, Arkansas. Und nebenbei unterstützt er natürlich noch Hillary Rodham.

LUKAS PHILIPPI

Joe Klein: „Das Naturtalent. Die verkannte Präsidentschaft Bill Clintons“, übersetzt von Hainer Kober, 224 Seiten, Siedler Verlag, Berlin 2003, 19,90 €