Vor Ort sein reicht nicht

Lidokino (10): Marco Bellochios fiktiver Film über die Entführung und ErmordungAldo Moros durch die Roten Brigaden ist einer der Favoriten für den Goldenen Löwen

Abends sitzen junge Menschen auf den Stufen zum Casino und zupfen an der Gitarre. Flaschen gehen von Mund zu Mund, die Mädchen tragen Wickelröcke, die Jungs Jesuslatschen. Je näher das Filmfest seinem Ende kommt, umso mehr wird es zum Volksfest. Im Kino geben die Handys keine Ruhe mehr, und die erschöpften Kritiker fragen einander die Favoriten ab: „Was meinst du, wer gewinnt?“

Ganz vorn in der Gunst liegt zurzeit Marco Bellochios „Buongiorno, notte“ („Guten Tag, Nacht“) – zu Recht. Auch dies ist ein Film mit zeitgeschichtlichem Hintergrund; es geht um die Entführung und Ermordung Aldo Moros durch die Roten Brigaden im Frühjahr 1978. Wie schon zuvor Paolo Benvenutis „Segreti di Stato“ optiert Bellochios Film für eine kühle Erzählperspektive. Der Regisseur baut sie über die Figur Chiaras (Maya Sansa) auf. Chiara zählt zu den Brigaden; sie mietet die Wohnung an, in der Moro festgehalten wird, sie schwankt zwischen der radikalen Position ihrer Genossen und dem Verständnis für den Häftling. Wenn sie die von Moro verfassten Abschiedsbriefe liest, ruft dies die Abschiedsbriefe zum Tode verurteilter Partisanen und das dazu passende historische Filmmaterial wach. „Buongiorno, notte“ gelingt es, diese Montagen alles Spekulative zu nehmen. Bellochio macht keinen Hehl daraus, dass er seinen Film als Fiktion verstanden wissen möchte. Genau darin liegt der entscheidende Unterschied zwischen seinem Umgang mit der Zeitgeschichte und demjenigen einer Margarethe von Trotta. Bellochio gibt nicht vor, zu zeigen, was war, sondern entwickelt aus dem historischen Geschehnissen ein eigenes Kunstwerk.

Wer immer sich bei dieser Mostra anschickte, eine bisher verschwiegene Episode der Geschichte ans Tageslicht zu holen, scheiterte, denn der Furor des Sichtbarmachens ist ja nichts anderes als eine Ausrede dafür, dass das ästhetische Begreifen des Sujets ausblieb.

Das gilt auch im Dokumentarischen. Oliver Stone zum Beispiel meint offenbar, dass es, um einen Dokumentarfilm über den Nahostkonflikt und Arafat zu drehen, ausreiche, in Ramallah mit der Kamera zu wackeln. „Persona non grata“ ist ein so hektischer und oberflächlicher Film, dass er Erkenntnis- und Reflexionswert einer Nachrichtensendung im Privatfernsehen kaum übertrifft.

Das argentinisch-italienische Regieduo Daniele Incalcaterra und Fausta Quattrini hingegen schlägt mit „Contra Site“ einen viel komplizierteren Weg ein. Ihre im bolivianischen Vallegrande angesiedelte Dokumentation folgt der Arbeit eines kubanischen Exhumierungsteams, das nach der Leiche Ernesto Che Guevaras sucht. „Contre Site“ arbeitet zwar durchaus mit hektischen „Ich-bin-vor-Ort“-Wackelbildern, stellt ihnen aber andere Bildebenen zur Seite. Etwa dadurch, dass Incalcaterra und Quattrini die visuelle Struktur des Internets für die Leinwand nutzen. Da macht sich ein aus Buenos Aires angereister Webdesigner zynische Gedanken über den Verlauf der Dreharbeiten und über die Bilder, die er ins Netz stellt, da will die Kamerafrau lange, statische Einstellungen und ist über die digitale Veränderung ihres Materials entsetzt, da wollen die Bewohner Vallegrandes so viele Sentimentalitäten über den Che äußern, dass man sehr genau weiß: Hier spricht niemand eine bisher unterdrückte Geschichte aus. „Willst du einen iranischen Film drehen?“, fährt der Zyniker einmal die Kamerafrau an, und das Schöne daran ist, dass seine Position dabei genauso fragwürdig bleibt wie ihre und die seiner Kollegen, die in Che Guevara noch heute den Leitstern politischen Protestes sehen.

CRISTINA NORD