Verrat in Santiago

Vor dreißig Jahren putschten Militärs in Santiago de Chile die sozialistische Regierung Salvador Allendes weg. Die Legende sagt, dass die USA das Terrorregime ermöglichten. Neue Quellenfunde belegen: Es war alles ganz anders

von HEIKE HAARHOFF

„Aus meinen Worten spricht keine Bitterkeit, nur Enttäuschung. Die Verräter werden ihre moralische Strafe erhalten. Ich werde nicht zurücktreten. Sie können uns unterjochen, aber den Fortschritt nicht aufhalten. Ich danke Ihnen, dass Sie einem Mann vertraut haben, der der Sehnsucht nach Gerechtigkeit eine Stimme gegeben hat.“ Das sind die letzten Worte, die Präsident Salvador Allende an das chilenische Volk richtet. Es ist der 11. September 1973. Der Präsidentenpalast La Moneda in Santiago de Chile ist Schauplatz einer der letzten Schlachten des Kalten Krieges.

Um sechs Uhr morgens besetzt die Marine die Hafenstadt Valparaíso und verhaftet mehr als tausend Anhänger der Allende-Regierung. Die Kommunikationsverbindungen nach außen werden bis auf eine Leitung gekappt. Über sie alarmiert der Präfekt der Carabineros um 6.11 Uhr den Präsidenten. Allende weiß nun genug, um beunruhigt zu sein, aber zu wenig, um das Ausmaß der Gefahr einzuschätzen. Es ist eine Falle.

Allende fährt in seinen Amtssitz. In Santiago herrscht morgendliche Ruhe. Die Militärs warten, bis Allende im Palast ist. Dann riegeln sie das Zentrum der Stadt von den Arbeitervororten ab.

Im Arbeitszimmer ruft Allende seine Getreuen zusammen: ein paar Minister, enge Freunde und zwanzig Leibwächter. Allende wartet auf Hilfe durch regierungstreue Einheiten unter Führung des Oberbefehlshabers Augusto Pinochet. Allende glaubt fest an dessen Treue – bis er um 8.32 Uhr die Proklamation der Militärjunta hört: „Armee und Carabineros von Chile erklären, dass der Präsident sofort seinen Posten an die Armee übergeben muss. Dass Armee und Carabineros einig sind in der historischen und verantwortungsvollen Aufgabe, das Vaterland vom marxistischen Joch zu befreien, Ordnung und Gesetzmäßigkeit wiederherzustellen. Gezeichnet: Augusto Pinochet Ugarte.“

Salvador Allende verliert die Fassung. Er ist nun auf sich selbst gestellt in seinem Palast, eingekesselt von viertausend Soldaten. Niemand kommt ihm zu Hilfe, weil niemand ihm zu Hilfe kommen will: Das angebliche Bedürfnis der chilenischen Arbeiter nach einer bewaffneten Revolution existiert höchstens in den Köpfen weniger Parteikader. Die Arbeiterklasse bleibt zu Hause, die Palastwachen desertieren. Allende entschließt sich zu einer Abschiedsrede und stellt eine Verbindung zum Radiosender Magallanes her. Seine Leibwächter drängen ihn zur Flucht. Doch Allende lehnt ab. Der Arzt mit der schweren Brille, der Romantiker aus bourgeoisem Milieu, der sich schon in seiner Jugend mit einem politischen Kontrahenten duellierte, weil für ihn, der im Sinne der Freimaurer erzogen wurde, Politik auch immer eine Frage der Ehre war, dieser Mann will sich nicht ergeben. Er, der gern Ansprachen ans Volk hält, aber ansonsten die Gesellschaft von Frauen aus der Oberschicht und exzellenten Whisky bevorzugt, will nicht als gescheiterter Präsident im Exil enden.

Um 11.52 Uhr wird der Palast von Flugzeugen angegriffen und mit Raketen beschossen, 21 Minuten lang. General Javier Palacios ist einer der Ersten, die die Moneda nach der Attacke betreten. Dreißig Jahre nach dem Putsch spricht er erstmals öffentlich darüber: „Ich ging in den ‚Salon der Unabhängigkeit‘. Auf dem roten Sofa, zur Seite geneigt, sah ich den Körper des Herrn Allende. Zwischen den Beinen das Gewehr, das ihm Fidel Castro geschenkt hatte. Sein Gehirn war herausgeflogen. Das Gesicht war fast intakt, aber angeschwollen.“ Mord oder Selbstmord? Jahrelang hält sich die Legende, Allende sei im Kampf gefallen. Ein Märtyrer wie Che Guevara. Dachte die westliche Linke. Undenkbar, dass der chilenische Präsident sich selbst erschossen haben könnte – aus Enttäuschung über seine Getreuen, seine Partei, sein Wahlvolk, die Allendes Glauben an Demokratie und Kompromisse boykottiert hatten und ihn am Ende im Stich ließen.

Lieber glaubte man, Allende sei ermordet worden – das passte eher zum Bild von einem Chile, dessen Bevölkerung auf Seiten der Revolution stand –und dass der Putsch einzig auf das Konto teuflischer Militärs ging. Nichts als Legenden. Dem Bremer Journalisten Wilfried Huismann, der für seinen Film „Verrat in Santiago“ – am 15. 9. um 21.45 Uhr in der ARD – sechs Monate in Chile, Washington und Moskau recherchierte, vertraute Allendes einstiger Leibwächter Pablo Zepeda an: „Er setzte sich, stellte das Gewehr zwischen die Beine und legte das Kinn auf die Mündung. Die Hand glitt nach unten zum Abzug, und er drückte ab. Es kam völlig unerwartet. Wir waren starr vor Schreck.“

Filmautor Huismann war von dieser Aussage selbst überrascht, vor wenigen Jahren hätte sich niemand getraut, sie öffentlich mitzuteilen: „Die wenigen Augenzeugen von Allendes Selbstmord gingen nach Kuba und waren fortan vom dortigen Regime abhängig, auch finanziell. Der Druck, die Wahrheit zu verschweigen, war immens, denn die Wahrheit passte nicht zur politischen Linie Kubas.“

Nun aber, da der Kalte Krieg zu Ende ist und seine Akteure ohne Furcht frei sprechen können, geraten auch andere Eckpfeiler linker Ideologie ins Wanken: Weder war der US-Geheimdienst CIA Drahtzieher des chilenischen Militärputsches, noch hatte die Sowjetunion irgendetwas unternommen, die mit ihr befreundete Allende-Regierung wirtschaftlich und finanziell gegen den drohenden Verlust der Macht zu unterstützen. Im Gegenteil. Aus heutiger Sicht erscheint der Sturz der Regierung Allende eher wie ein innerchilenischer Gewaltakt, eher mit einem rechten Volksaufstand verwandt als mit einem Putsch faschistoider Militärs, der von den USA wohlwollend und von der Sowjetunion billigend in Kauf genommen wurde.

Der Reihe nach: Der Aufstand des bürgerlichen Chile gegen die Allende-Regierung beginnt bereits im Oktober 1972. Aus Protest gegen die Enteignung der meisten Konzerne, gegen Betriebs- und Landbesetzungen treten Fuhrunternehmer, Ärzte und Inhaber kleiner Geschäfte in den Streik. Wer kann, hat sein Kapital längst ins Ausland gebracht. Viele Studenten rebellieren gegen die Inflation, also gegen Kaufkraftverlust, Teile der Arbeiter damit auch gegen Lohnsenkungen.

Denn so gut die Reformen der Volksfrontregierung unter Präsident Allende (Milch für jeden Säugling, gleiche Bildungschancen für alle sowie gerechte Löhne und Besitzverhältnisse) gemeint sein mögen: Nach wenigen Monaten erwirtschaften die verstaatlichten Betriebe nur noch Defizite. Die Parteikader haben weder Erfahrungen mit der Leitung von Unternehmen noch Kenntnisse von Ökonomie überhaupt.

Der Widerstand gegen die Regierung Allende, die verzweifelt auf politischen Dialog setzt und dabei versäumt, Herr über das Chaos zu werden, in dem das seit Jahrzehnten an Stabilität gewöhnte Land zu versinken droht, ist mehr als der Protest einer Minderheit: Anfang des Jahres 1973 hat Allende die Hälfte des Volks gegen sich. Die Versorgung bricht zusammen, selbst für Kartoffeln, Öl und Seife muss nun in Chile, seit je eines der reichsten Länder Südamerikas, Schlange gestanden werden: Wütende Hausfrauen trommeln auf ihren Kochtöpfen vor dem Präsidentenpalast. Die politische Rechte gründet eine Terrororganisation: Patria y Libertad, nichts anderes im Sinn, als das Land mit Attentaten zu destabilisieren.

Es ist dieses gesellschaftliche Klima, das die Gewalttätigkeit und die Forderung nach einem Machtwechsel begünstigt. „Wir, die Zivilisten, trieben die Geschichte voran“, sagt der ehemalige Putschist Alvaro Puga heute. „Die beiden großen Streiks brachten die Regierung zu Fall.“

Doch auch die radikale Linke rebelliert mit Streiks gegen Allendes Politik – ihr geht sein Sozialismus nicht weit genug, für sie ist und bleibt der Sohn eines Rechtsanwalts ein bürgerlicher Träumer, einer von der Sorte, der am Wochenende gern mit seinem Segelboot über den Pazifik schippert. „Wir hatten nicht die Kraft, solche Strömungen zu besiegen. Das nutzte dem Spiel der Rechten“, sagt der frühere Generalsekretär der KP Chiles, Luis Corvalán. Auch die Tragik, von den eigenen Leuten so missverstanden zu werden, ließ Salvador Allende am Ende resignieren.

Im Dezember 1971 ist Fidel Castro zum Staatsbesuch eingeladen. Er wird gefeiert. Allendes Tochter Isabel erinnert sich: „Die kubanische Revolution war auf ihrem Höhepunkt, und bei uns glaubten viele, auch in Chile sei der bewaffnete Weg der Revolution das Beste. Mein Vater sagte aber: Nein. Tiefgreifende Reformen sind nur demokratisch möglich.“

Allende verhandelt mit den Unternehmerverbänden, beruft Generäle in sein Kabinett, verspricht, die Exzesse zu stoppen und illegal enteignete Betriebe zurückzugeben. Kommunisten und Sozialisten hassen ihn für seine Kompromisse. Im Herbst 1972 wird Oberbefehlshaber Carlos Prats zum Vizepräsidenten ernannt. Er verkörpert die Hoffnung auf nationale Versöhnung.

Im Dezember 1972 fliegt Allende nach Moskau. Der Große Bruder soll ihm helfen. Doch der Geheimdienst KGB ist dagegen. Allende solle selbst sehen, wie er zurechtkommt. Der ehemalige KGB-General Nikolai Leonow gibt heute zu: „Unsere Meinung war: Das chilenische Experiment ist zum Tode verurteilt. Weil Allende gegen eine Politik der eisernen Faust war. Aus der Erfahrung anderer Länder wussten wir, mit diesem Idealismus war es unmöglich, die Ordnung aufrechtzuerhalten.“

Leonid Breschnew bleibt also hart: Keine Dollars für Chile. Weshalb in ein Projekt investieren, das die Parteiführung in Moskau für politisch irrwitzig hält und dessen Finanzierung zudem, nach den Erfahrungen mit Kuba, horrende Summen verschlingen dürfte?

Nach den Verhandlungen sagt Allende zu seinem Arzt: „Ich habe den Dolch im Rücken.“ Dolmetscher Igor Rybakin, bei den chilenisch-sowjetischen Unterredungen anwesend, erzählt: „Allende sagte: Herr Breschnew, ich habe jetzt die Bitte eines zum Tode Verurteilten. Breschnew zog die Augenbrauen hoch: Was soll das heißen? Allende antwortete: In ein paar Tagen laufen die kurzfristigen Kredite für Chile aus – achtzig Millionen Dollar. Wenn wir sie nicht zurückzahlen, steht Chile vor dem Staatsbankrott und verliert sein gesamtes Ansehen.“ Vergebens. Die sowjetische Diplomatie informiert US-Außenminister Henry Kissinger, dass das Mutterland des Sozialismus Allende nicht helfen werde. Das Signal hätte eindeutiger nicht sein können: Die UdSSR will keinen Konflikt mit den USA und hat an einem zweiten Kuba kein Interesse.

Beide Supermächte können mit Allendes „Sozialismus in Freiheit“ nichts anfangen: Die Nixon-Regierung würde Allende zwar gern mit wirtschaftlichem und politischem Druck stürzen, aber der Geheimdienst CIA bekommt den ausdrücklichen Befehl, sich nicht an Aufstandsplänen zu beteiligen – wie CIA-Dokumente belegen, die demnächst veröffentlicht werden. Denn nachdem die UdSSR sich von Allende distanziert hat, steht für Kissinger fest, dass von ihm keine Gefahr mehr ausgeht: Am Südzipfel des Kontinents droht keine Sowjetifizierung.

Eine zweite CIA-Intervention wie beim Amtsantritt von Allende im Jahr 1970, die mit der Ermordung von General Rene Schneider endete, will in Washington niemand. Die USA sind vielmehr davon überzeugt, dass Allende 1976, bei den nächsten Wahlen, ohnehin verlieren wird. Darüber hinaus hatte Allende in Geheimverhandlungen mit der US-Regierung seine Bereitschaft bekundet, den enteigneten US-Unternehmen doch Entschädigungen zu zahlen. Eine pragmatische Lösung, mit der Allende ganz auf CIA-Linie liegt.

Kissinger verbucht diese Entwicklung als persönliches Verdienst. Der ehemalige US-Botschafter Edward Korry sagt: Er „erklärte im kleinsten Kreis, dass es seine erfolgreiche Diplomatie mit den Sowjets war, die Moskau davon überzeugte, Allende fallen zu lassen.“

Was Kissinger nicht weiß: Breschnew verspricht Allende unter vier Augen Waffen im Wert von hundert Millionen Dollar, um die Armee ruhig zu stellen. Allende ist davon überzeugt, dass neue , schlagkräftige Waffen die Armee, die ideologisch gegen ihn ist, an ihn binden werden. Das Abkommen wird Anfang 1973 unterzeichnet. KGB-General Leonow: „Er schickte Pinochet hierher nach Moskau, um die Waffen auszusuchen. Wir vom KGB wussten nichts davon. Ich erfuhr es aus sicherer Quelle, als die Schiffe mit den unseren Waffen schon auf See waren. Ich schrieb persönlich eine dringende Eingabe an die sowjetische Regierung, um die Schiffe zu anderen Zielen umzuleiten. Denn der Staatsstreich lag in der Luft.“ Die KGB-Quelle war ein Informant aus den Reihen der chilenischen Armee. Später gehörte er zu den Putschisten.

In letzter Minute werden die sowjetischen Panzer ins benachbarte Peru umgeleitet. Dem KGB war es gelungen, die Moskauer Parteiführung davon zu überzeugen, dass ein Putsch das Image der UdSSR empfindlich schädigen würde. Man stelle sich vor: Sowjetische Panzer vertreiben einen sozialistischen Präsidenten und schießen anschließend auf chilenische Arbeiter.

Chile wird unregierbar für einen Präsidenten, an den niemand mehr glaubt. In den Augen Allendes gibt es nur einen Ausweg – eine Volksabstimmung, um anschließend die christdemokratische Opposition in seine Pläne einbeziehen. Doch seine sozialistische Partei widersetzt sich ihm: Nein zum Dialog mit den Christdemokraten, Nein zur Volksabstimmung.

Unter der Führung von Generalsekretär Carlos Altamiro lehnen sie den politischen Dialog als „Kapitulantentum“ ab. Stattdessen wollen sie die Macht mit den Waffen verteidigen. Noch zwei Tage vor dem Putsch, am 9. September 1973, sagt Altamiro in einer Rede: „Wir sind die Avantgarde des Proletariats, bereit, jedem Putsch zu widerstehen. Chile wird sich in ein neues heldenhaftes Vietnam verwandeln.“ Drei Jahrzehnte danach räumt der ehemalige Generalsekretär ein, mit dieser Rede „Benzin ins Feuer gegossen“ zu haben.

Es braucht in dieser Situation nicht mehr die USA, um das Militär zum Putsch zu drängen. Das besorgen schon die katholischen Bischöfe Chiles sowie die bürgerliche Mehrheit im Parlament. Sie entscheiden, dass das Land auf Dauer ruiniert würde, unternähmen sie nichts. Sie fordern die Generäle zum Handeln auf. Bei der Armee rennen sie offene Türen ein.

Pinochet jedoch ist ein Hindernis – noch. Er gilt als „treuer Diener Allendes“. Schließlich hat er sich bereits bei einem ersten Miniputsch der Armee im Juni 1973 zusammen mit dem Oberbefehlshaber Prats den Panzern entgegengestellt, schließlich hat Allende ihn im August 1973 nach dem Rücktritt Prats zu dessen Nachfolger ernannt. Also setzen die putschbereiten Generäle ihn wenige Tage vor dem 11. September 1973 unter Druck: Für den Fall, dass der Oberbefehlshaber sich weigert, beim Staatsstreich mitzumachen, haben sie schon einen Nachfolger für ihn bestimmt. Pinochet beugt sich dem Druck.

Gerade weil er anfangs so starke Zweifel und ein so schlechtes Gewissen gehabt habe, sei Pinochet der härteste, brutalste und kriminellste Putschist geworden – so erklären sich sowohl ehemalige Putschisten als auch Sozialisten das spätere Terrorregiment. Die Militärdiktatur währt siebzehn Jahre. Ihr Ende wird nicht durch eine Revolution besiegelt, sondern durch ein Referendum, das Augusto Pinochet anbietet – und knapp verliert.

HEIKE HAARHOFF, 34, taz-Reporterin, verbrachte im Jahr 2001 drei Monate in Chile. Ihr Text basiert auf den Recherchen des für seine Arbeit vielfach preisgekrönten Bremer Fernsehjournalisten Wilfried Huismann für seinen Film „Verrat in Santiago“, den die ARD am 15. September um 21.45 Uhr ausstrahlt. Der WDR zeigt im Anschluss um 22.30 Uhr Huismanns Recherchen über Augusto Pinochets Militärregime: „Eiskalt“ (Mitautor Raúl Sohr)