Echte Gefühle

Rudi Völler hat der Fernsehgeschichte einen Moment beschert – originellerweise mit einer Tirade gegen das Fernsehen als Unterhaltungsmedium

Fernsehen profitiert wie kein zweites Medium von der Abweichung. Fernsehen ist live dabei, wenn das Normale gestört wird, wenn in Madrid das Tor umfällt, wenn Trapattoni seine Mannschaft beschimpft oder der Boxer Norbert Grupe im Interview einfach schweigt. In solchen Momenten, in denen das Spontane die Inszenierung durchbricht, kommt Fernsehen als Unterhaltungmedium zu sich selbst. Am Samstagabend hat Rudi Völler der Fernsehgeschichte so einen Moment beschert – originellerweise mit einer Tirade gegen das Fernsehen als Unterhaltungsmedium.

Bei Länderspielen passiert seit Jahren das Gleiche: Die Deutschen spielen mittelmäßig, die ARD-Kommentatoren Delling und Netzer kritisieren die Elf in Grund und Boden, danach wird Trainer Völler befragt, der diese und jene Schwäche einräumt und sich im Übrigen vor die Mannschaft stellt.

Delling und Netzer sind ein ironisches Duo, die unverkennbar Rollen spielt; Netzer als marmornes Denkmal des schönen Fußballs der frühen 70er, als Verkörperung des Früher-war-alles-Besser, über den sich der flotte Herr Delling dezent lustig macht. Zur Ironie dieses Arrangements gehört auch, dass Netzer als Geschäftsführer der Firma Infront, die mit Fußballrechten handelt, gewissermaßen das Produkt schlechtredet, das er der ARD verkauft hat.

Am Samstagabend hatte aber Rudi Völler keine Lust mehr auf Ironie, Rollenspiel und Unterhaltung. Völler ist, als Fußballer und als Trainer, ungemein populär. Er ist wie wenige andere Kicker seiner Generation immer der Gleiche geblieben. Er ist nicht arrogant, wie Karl-Heinz Rummenigge, er hat schon gar nicht, wie der trostlose Lothar Matthäus, versucht, sich als Aufsteiger zu inszenieren. Völler, gelernter Bürokaufmann aus einer Arbeiterfamilie, wollte nicht nach ganz oben. Bundestrainer ist er eher zufällig geworden. Kaum sonst jemand verkörpert im deutschen Fußballgeschäft so glaubwürdig das proletarische Ethos, dass man seinen Job halt so gut macht, wie es geht. Sein Ausbruch war, wenn man will, der eines Facharbeiters, der mit mäßigem Material dauernd Höchstleistungen vollbringen soll und, wenn das misslingt, was zu hören bekommt. Einer, der ehrliche Arbeit abliefert, gegen die Diskurshoheit der debattierenden Klasse.

Mag also sein, dass seine „Alles Scheiße“-Tirade manchem Bundesbürger aus dem Herzen gesprochen hat, der auch ehrliche Arbeit abgeliefert, brav seine Beiträge gezahlt hat und jetzt zusieht, wie das Gesundheits- und Rentensystem zu Schanden geht und der Standort Deutschland in Grund und Boden geredet wird. Insofern passt dieser Wutausbruch vieleicht gar nicht schlecht in die Landschaft.

Gewiss gab es in Völlers Rundumschlag auch einen unguten Ton: Da sprach halb ein aufgebrachter Kleinbürger, der um sich schlägt – und halb ein Malocher, dem die ewige Besserwisserei der andern zu Recht auf die Nerven geht. Und schließlich sprach da ein Profi, der gegen die Regel rebelliert, dass Fußball als Samstagabendunterhaltung zu funktionieren hat.

Genau das hat Völler mit seinem Ausraster geschafft. Das Spiel war furchtbar – aber Völler danach besser als Ballack je sein kann. Sein Auftritt hat die Unterhaltungsmaschine Fernsehen mit genau dem Rohstoff versorgt, den sie am meisten braucht: echte Gefühle.

STEFAN REINECKE