Der rasende Rudi

Vom Stil mal abgesehen: Inhaltlich hat Teamchef Völler mit seiner Brandrede gegen die ARD Recht

von MATTI LIESKE

Eins ist mal sicher: Würde Rudi Völler den Grimme-Preis vergeben, das ewige Besserwisser-Duo Delling/Netzer von der ARD bekäme ihn nicht. So unverhofft die Tirade des Teamchefs der deutschen Fußballer bei seinem Fernsehauftritt mit Waldemar Hartmann nach dem 0:0 im EM-Qualifikationsspiel auf Island kam, so giftig fiel sie aus. Einen derartigen Grad an Cholerik hatte zuletzt Franz Beckenbauer bei sporadischen Eruptionen in seinen seligen Zeiten als Vorsteher der Nationalmannschaft an den Tag gelegt.

Völlers Brandrede gegen die Anspruchshaltung der Kommentatoren strotzte nur so von Vokabeln wie „Scheißdreck“, „Käse“, „Scheiß“, „Mist“ und noch mal „Scheiß“. „In welcher Welt lebt ihr denn alle?“, herrschte er die versammelten Fernsehnasen an und schreckte auch vor keiner Gürtellinie zurück (siehe nebenstehende Dokumentation).

Bierernst und beleidigt die Replik des emsigen Fernsehrechte-Maklers und obersten Fußball-Mäklers. Damals hätte man auch mal schlecht gespielt, räumte Günter Netzer ein, aber dann seien zehn hervorragende Spiele gefolgt. Das müsse wohl vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen sein, konterte Völler ungerührt. So schlecht hat Netzer jedenfalls nicht mehr ausgesehen, seit er 1974 gegen die DDR eingewechselt wurde.

Völlers Rage bezog sich keineswegs auf Kritik an der Leistung der deutschen Fußballer, die auch seiner Meinung nach ein sehr schlechtes Spiel geliefert hatten und mit dem 0:0 noch überaus gut bedient waren. Völler wehrte sich vielmehr gegen ein hartnäckiges Bild vom deutschen Fußball, das für ihn der tiefen Vergangenheit angehört. Das Bild vom besten Fußball der Welt, den es nur umzusetzen gälte. Als eingeschworener Realist zieht er gegen solche Illusionen zu Felde, seit er den Posten des Teamchefs aufgeschwatzt bekam.

Häufig sah man ihm dabei an, wie er seinen Zorn hinunterschluckte, wenn wieder einmal die Rede davon war, dass eine deutsche Mannschaft vermeintlich kleinere Gegner beherrschen und sicher schlagen müsse. Beharrlich versuchte er, sein Team, das er übernommen hatte, als es nach der EM 2000 komplett am Boden lag, dort einzuordnen, wo es hingehört: irgendwo in der zweiten europäischen Reihe, mit dem Potenzial, einiges zu erreichen, wenn die Bedingungen gut sind, aber auch mit jeder Menge Raum für Abstürze selbst gegen Kontrahenten wie die Färöer Inseln. „Dass wir Vize-Weltmeister sind, heißt bestimmt nicht, dass wir die zweitbeste Mannschaft der Welt sind“, predigt der Völler seit letzten Sommer unaufhörlich. Es heißt aber immerhin, dass man in der Lage war, die Möglichkeiten, die ein verrücktes WM-Turnier bot, optimal zu nutzen. Gelebter Utilitarismus heißt die Devise, ein 0:0 beim „Tabellenführer“ (Völler) Island, egal, wie kläglich es zustande kam, ist für den Teamchef daher zuallererst ein positives Ergebnis, weil es die Möglichkeit erhält, sich aus eigener Kraft für die EM 2004 in Portugal zu qualifizieren.

„Pech gehabt“ hätten Delling und Netzer, dass sein telegener Ausbruch ausgerechnet sie erwischt habe, sagte Völler später, genausogut hätte es Beckenbauer oder Breitner treffen können, andere „Gurus“, wie er sie nennt.

Ein Zufall war es aber beileibe nicht, dass er sein Mütchen an den ARD-Nörglern kühlte, die ihre Mischung aus Spielkritik und Generalabrechnung als Erfolgsmasche kultiviert haben. Vor allem Netzer pflegt wie kein anderer den Mythos vom alten Fußball, jenen Zeiten, als Island und andere „Fußballzwerge“ noch reine Amateure aufboten und den Deutschen konditionell wie taktisch so unterlegen waren, dass es häufiger mal einen Kantersieg gab.

Natürlich spielt dabei auch Verklärung eine Rolle, immerhin stand Netzer selbst in jener DFB-Mannschaft, deren erste EM-Teilnahme 1967 mit einem 0:0 in Tirana gegen Albanien frühzeitig endete. Und zu den zehn herausragenden Spielen, die laut Netzer hätten folgen sollen, zählen dann wohl ein 0:0 gegen die Schweiz, ein 1:1 gegen Wales, ein 1:2 gegen Chile oder ein 1:0 gegen Zypern.

Heute sagt Netzer staatsmännische Sätze wie: „Eine solche Leistung können wir nicht tolerieren.“ Woher seine Suprematie-Gewissheit in Bezug auf eine Mannschaft rührt, die zuvor gegen Litauen, Schottland und Island unentschieden gespielt, gegen die Färöer zweimal äußerst mühsam gewonnen hat, bleibt sein Geheimnis. Und offenbart eben jene „überzogene Erwartungshaltung“, die Völler so in Rage versetzt. Auf der anderen Seite verblüfft Netzers Einschätzung, das DFB-Team reihe ein miserables Spiel an das andere. Schließlich gab es gerade kürzlich beim 0:1 gegen Italien sehr gute Kritiken, und der unbestreitbare Erfolg der Vize-Weltmeisterschaft ist auch noch nicht allzu lange her.

Am Ende seines kämpferischen Auftritts, mit dem er nicht nur die eigenen Kicker, sondern auch den später fäustelnden ARD-Boxweltmeister Sven Ottke glatt in den Schatten stellte, musste man fast fürchten, Rudi Völler habe die Schnauze voll von seinem Job: „Ich bin nicht wie Ribbeck oder Vogts, die jahrelang in ihrem Stuhl festgesessen haben. Das ist mir das Ding nicht wert.“ Später wiegelte er jedoch ab. Er habe das nur loswerden müssen, „bevor ich Magengeschwüre kriege“. Und sogar Waldemar Hartmann erhielt Absolution. Den Vorwurf, Waldi habe „schon drei Weizenbiere getrunken“, habe er „nicht so gemeint“, lenkte Völler ein, fügte aber, um Missverständnissen vorzubeugen, hinzu: „Alles andere schon.“