Das Streben der Bohème

Die Sehnsucht nach dem wilden Mann: Jörg Immendorff stellte sich in Berlin der Öffentlichkeit. Anlass war die Eröffnung seiner Werkschau bei Contemporary Fine Arts

Als Jörg Immendorff am Freitagabend zum Foto-Shooting vor die Paris Bar trat, war er auffallend elegant gekleidet und bestens rasiert. Er schien so sehr um Seriosität bemüht, dass man geneigt war, einen leicht abgewandelten Oscar Wilde zu zitieren: „In einem Abendanzug kann sich jeder den Ruf eines zivilisierten Menschen erwerben, sogar ein Künstler.“ Allerdings, Jörg Immendorff, der zur Eröffnung seiner sehenswerten Retrospektive bei Contempory Fine Arts nach Berlin gekommen war, sah mitgenommen aus. Rund 14 Tage nach dem Skandal um seine extravagante Abendgestaltung in einem Düsseldorfer Hotel, schien ihm der öffentliche Auftritt eine Prüfung zu sein. Der unschöne, doch richtige Gedanke, dass der für Berlin ungewöhnlich große Menschenauflauf zur Vernissage nur dem Skandal und nicht seiner Kunst geschuldet war, mag zu seinem schüchternen Auftritt beigetragen haben.

Oscar Wilde meinte selbstredend nicht den Künstler, sondern den Börsenmakler. Mit dem Banker, dem Geschäftsmann, hat aber der Künstler heute tatsächlich so viel gemein, dass man spekulieren kann, ob ein Teil der Scham, die Immendorff über seine öffentliche Bloßstellung empfinden muss, nicht zuletzt die Scham über eine inadäquate Inszenierung ist – über das peinlich veraltete Bild der Bohème. Nachdem Unternehmer und Manager in den letzten Jahren so viel in Kunst investierten, lässt sich beobachten, wie die Künstler umgekehrt zunehmend Inszenierungsformen, Themen und Sprechweisen der Geschäftswelt übernehmen. Der aufstrebende Künstler heute ist smart, entgegenkommend, dabei gleichwohl durchsetzungsfähig, flexibel und vor allem diszipliniert; er pflegt den Habitus des Jungmanagers. Obwohl er eine Prise unkontrollierbares Genie in seine Darstellung zu mischen versucht, wirkt selbst Jonathan Meese stets wie der gut erzogene Junge aus dem Hamburger Bürgertum, der er ist. Meese, Shootingstar der Kunstszene wie Daniel Richter, gruppierte sich mit diesem zum Gruppenbild mit Immendorff, beide stifteten die Verbindung des hochgeschätzten Künstlers mit ihrer Galerie. Extrem charmant und bestens erzogen ist auch David Adjaye, der in informierten Kreisen momentan angesagte Architekt. Der Londoner ghanesischer Abstammung hat die neuen Räume gestaltet, die Bruno Brunnet und Nicole Hackert von Contemporary Fine Arts mit dem ersten Teil von Immendorffs „Aualand“-Werkschau eröffneten.

Die Galerie schaut großzügig und elegant aus. Das tut den ausgestellten Bildern und Objekten aus den Jahren 1964 bis 1984 gut. Immendorffs als Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll inszenierte Männlichkeit nimmt sich in diesem coolen Ambiente dagegen sehr inaktuell aus. Natürlich provoziert der Künstler als smart ass inzwischen wieder die sentimentale Sehnsucht nach dem Künstler als wildem Mann. Der Beleg ist die Renaissance des verstorbenen Martin Kippenberger, der zuletzt ebenfalls wusste, dass alle ihn kennen, nur sein Werk nicht. Doch der Verdacht steht im Raum, dass diese Renaissance bloß funktioniert, weil der Provo sich real life nicht mehr blamieren kann. BRIGITTE WERNEBURG