Woher wir kommen

Ein Solo zu Joan Baez und eine Improvisation von 13 Tänzern zu Miles Davis’ „Bitches Brew“: Die Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker zeigt in ihren klaren Transformationen musikalischer Strukturen, dass der Tanz der Geschichte der Musikrezeption eine ganz eigene Form der Reflexion verleihen kann

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Musikkritik und Tanzkritik: Es gibt nur wenig Berührung zwischen diesen Universen. Wenn Kritiker Musik schätzen, ist ihnen die Vorstellung, dazu wird jetzt getanzt, oft ein Graus. Dass der Tanz aber der Geschichte der Musikrezeption eine ganz eigene Form der Reflexion verleihen kann, beweisen jetzt wieder zwei Stücke von Anne Teresa de Keersmaeker. Die Choreografin und ihre Compagnie der Rosas aus Brüssel sind seit 20 Jahren für ihre klaren Transformationen musikalischer Strukturen bekannt.

Ihr Solo „Once“ zu einem Live-Album von Joan Baez („Joan Baez in Concert“, Part 2, 1963) und das Ensemble-Stück „Bitches Brew“ zum gleichnamigen Album von Miles Davis (1970) nehmen die Musik und das Format der Langspielplatte als einen eigenen Raum der Erinnerung wahr. Sie gehen vom intimen Gebrauch der Musik aus, vom Hören zu Hause, und von all dem, was sich im Zeitraum zwischen ihrer Einspielung und der Gegenwart ereignet hat. Die Musik wird dabei zu einem Ort des Ursprungs: Woher wir kommen, was wir geworden sind.

Zuerst entstand das Solo „Once“, das Anne Teresa de Keersmaeker vor kurzem in Berlin zeigte. Allein auf der Bühne sind ihre Bewegungen eine ständige Aufforderung, zuzuhören und die Textzeilen, die eingeblendet werden, mitzulesen. Eine Weile bleibt das Licht im Saal an, die Tänzerin betrachtet ihr Publikum. Dann werden die Songs und ihr Wiederhören zu einer Form der Selbstverständigung, in der es auch um die Erinnerung an eine Haltung und einen poetischen Idealismus geht, der sich nicht unbeschädigt durch die Jahre transportieren ließ. Zugleich lässt die 43-jährige Choreografin das Vokabular ihrer Formen noch einmal entstehen, ganz beiläufig und ganz aus sich heraus.

Diesen Weg, Bewegungsmaterial aus dem Dialog mit einer Stimme zu entwickeln, setzt Anne Teresa de Keersmaeker in „Bitches Brew/Tacoma Narrows“, im Juni uraufgeführt und jetzt zu Gast auf dem Tanzfestival in Braunschweig und im Tanzhaus Nordrhein-Westfalen fort: Aber jetzt sind es 13 Tänzer, die je ihre eigene Erzählstimme in dem suchen, was aus der Improvisation der 13 Musiker entstand, die Miles Davis ins Studio eingeladen hatte. Viele ihrer Moves sowie die Gleichzeitigkeit unterschiedlichen Rhythmen und Tempi in dem Nebeneinander von Solos, Trios und Ensemble wären im Tanz vor dreißig Jahren noch nicht möglich gewesen. So bildet die Choreografie eine Hommage an die Musik und den Freiraum, der sich durch ihre Improvisation eröffnet hat.

In diesem Stück feiert sich das Ensemble im rauchigen Licht eines Ballsaals nicht zuletzt in wunderschönen Kostümen, durchscheinenden Kleidern aus Spitze in verblassten Silber- und Goldtönen. Was die Rosas auszeichnet, ist die Wachheit, mit der die Tänzer sich auf der Bühne wahrnehmen: So wird Bewegung sehr viel leichter als Reaktion auf Vorausgegangenes und unablässige Transformation des Materials aus dem Moment heraus erlebbar. Nie erstarren ihre Stücke in jener Routine, die Bewegungs-Phrasen abspult, weil sie bei Takt xx in der Partitur stehen. Dieses Sichzuschauen, den Punkt suchen, an dem man eingreifen kann, aufnehmen, verändern, gegenhalten kann, ist in „Bitches Brew/Tacoma Narrows“ auf die Spitze getrieben. Wie bei einem Spiel, bei dem die Regeln ständig wieder durch Verabredungen bestätigt werden, umkreisen sich die Tänzer, verfolgen und kontrollieren sich, gehen mit und geben weiter. So wird die Freiheit des Einzelnen in den Solos sichtbar als ein Effekt des ganzen Systems.

Aber sichtbar wird auch das Risiko und das mögliche Chaos, das aus den vielen Solostimmen hervorgehen könnte. Die Energie der Musik, ihr Vibrieren und ihre Spannung, verbinden sich mit einer Melancholie und dunklen Schläfrigkeit, einem Abdriften aus der Gegenwart, einem Fall ins Bodenlose. Die Möglichkeit des Scheiterns des Experiments, ohne hierarchische Muster auszukommen, scheint im letzten Drittel der Choreografie durchaus auf. Die Tänzer müssen sich erst an den Händen fassen und in einer langen Kette vergewissern, dass sie noch zusammenhalten. So einfach ist das manchmal.

Am 9. 9. zeigen die Rosas in Hannover, Kleine Eilenriedehalle, „Small hands“, am 11. 9. „Bitches Brew“ im Tanzhaus Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf