Der Machtverlust der Kunst

Der Streit um die geplante RAF-Ausstellung in den Kunst-Werken Berlin beruht auf einer Überschätzung des kritischen Potenzials der Kunst. Denn wo die Kunst sich mit Tod und Terrorismus auseinander setzt, zieht sie sich oft ins Unscharfe zurück

Jeder Film und jedes Lifestylemagazin hat bessere Chancen, etwas zu bewegenDer Betrachter leidet unter dem Entzug an Information und Erzählung

von WOLFGANG ULLRICH

Alles Staatstragende ist längst gesagt. Und viel Kunstgläubiges obendrein. In den zahllosen Stellungnahmen über die in den Berliner Kunst-Werken geplante RAF-Schau wird unhinterfragt vorausgesetzt, dass eine solche Ausstellung große Wirkung hätte. Während die einen Angst vor einer weiteren Mythisierung des deutschen Linksterrorismus der 70er-Jahre haben, halten die Ausstellungsmacher dagegen, ihnen gehe es im Gegenteil um eine Entmythisierung – um eine Kritik an „den oberflächlichen und ahistorischen, popkulturellen Verarbeitungen der letzten Jahre“. Beide Argumentationen trauen der Kunst also viel zu – vermutlich viel zu viel.

Natürlich stehen beide Einschätzungen, was die Rolle der Kunst anbelangt, in langen, weithin bekannten Traditionen: Die Poetisierung der Welt und Genese neuer Mythen wurde seit der Romantik von der Kunst erwartet, und ähnlich alt ist die Idee, Kunst sei ihrem Wesen nach Opposition, sei gegen übliche Wahrnehmungsweisen gerichtet und daher prädestiniert zu Kritik und Dekonstruktion. Beides sind, genau genommen, Vorstellungen aus dem frühen Bildungsbürgertum, das in der Kunst zum einen eine Überhöhung des eigenen, meist wenig erbaulichen Alltags suchte, zum anderen seinen Stolz gegenüber dem als blasiert und willkürlich auftretenden Adel bekundete, indem es die Kunst als das Bessere und Wahrere – von Macht und Geld Unkorrumpierte – ausgab. Entsprechend erkennen die Ausstellungsmacher in der Vermarktung der Terroristen für T-Shirt-Motive, ja, im Kokettieren mit einer Prada-Meinhof-Mode die aktuelle Form von Oberflächlichkeit, die sie mit Hilfe der Kunst bekämpfen wollen; andererseits lehnen diejenigen, die der Kunst mythenstiftende Kraft zusprechen, es ab, dass diese ausgerechnet der RAF, und nicht deren Opfern, zugute kommen könnte.

Man kann das Engagement beider Seiten schon damit dämpfen, dass man die Reichweite einer solchen Ausstellung mit der Publizität vergleicht, die andere Formen der Aufarbeitung dieses Kapitels bundesrepublikanischer Geschichte finden. So haben vor zwei Jahren den Film „Black Box BRD“ von Andres Veiel allein im Kino bereits mehr als 100.000 Besucher gesehen – dies eine Zahl, die selbst große Ausstellungshäuser mit Publikumsrennern kaum einmal schaffen. Mit moderner und zeitgenössischer Kunst erreicht man nun einmal nur eine kleine Gemeinde, und auch ein Thema, das an sich viele interessiert und als Mythos angekündigt wird, ändert daran nicht viel. Sogar, wenn die Ausstellung ein völlig neues Bild der RAF liefern könnte, die totale Mythisierung oder die radikale Entmythisierung, ließe sich damit kaum gegen bestehende Bilder ankommen. Jeder Film und jedes Lifestylemagazin hat ungleich bessere Chancen, etwas zu bewegen.

Man könnte zu bedenken geben, dass die Zahl der Besucher nicht so wichtig sei: Solange Multiplikatoren und Meinungsmacher erreicht werden, kann auch eine klein-feine Ausstellung zumindest indirekt zu einer Revision bestehender Ansichten beitragen. Spätestens hier lässt sich jedoch der Frage nicht mehr ausweichen, ob denn das, was von Seiten der Kunst an Beschäftigung mit der RAF vorliegt, überhaupt dazu angetan ist, entweder eine Auratisierung oder eine Dekonstruktion zu betreiben.

Als Erstes wird immer auf Gerhard Richters 15-teiligen Zyklus „18. Oktober 1977“ verwiesen, der jedoch kaum den Weg vom New Yorker Museum of Modern Art in die Berliner Auguststraße fände, der aber immerhin als einzige der RAF-bezogenen Arbeiten eine eigene Debatte auslöste, als er 1988 erstmals ausgestellt wurde. Dass er nur die Täter zeigt, die Gewalt fast ganz ausklammert und dafür ein Jugendbildnis der Ulrike Meinhof sowie drei Varianten einer charmant lächelnden, weich gezeichneten Gudrun Ensslin malte, hielt man Richter damals vor. Also eine Mythisierung oder zumindest eine Verklärung? Allerdings verwischt Richter einige Tafeln dieses Zyklus so sehr, dass das Sujet kaum noch zu identifizieren ist. Es wird dann keine fotografische Unschärfe mehr suggeriert, die zu sentimentalen Regungen Anlass gäbe, sondern der Betrachter wird mit einer ikonoklastischen Geste konfrontiert, so als gebe es hier nur vage Spuren nie mehr vollständig rekonstruierbarer Ereignisse. Auratisierung und Ernüchterung halten sich also die Waage – und beides zusammen weckt den Wunsch, mehr zu erfahren, als die Bilder zeigen.

Auch in „Black Box BRD“ gibt es unscharfe Bilder, Ausschnitte aus originalen Amateurfilmen, die entweder den jungen Alfred Herrhausen oder den heranwachsenden Wolfgang Grams zeigen. Hier jedoch wird die Faszination am Authentischen nicht gebrochen, und wenn etwas ein wenig verschwommen zu sehen ist, steigert das nur den Reliquien-Charakter des Materials. Die (nicht nur formal) gleichartige Darstellung des Opfer- und Tätermilieus bewirkt eine Egalisierung, und je länger der Film dauert, desto mehr verschmelzen die zwei Hauptprotagonisten zu einem gemeinsamen Mythos, zu einem einzigen tragischen Geschehen. Auf der Website zum Film gehen die Gesichter von Herrhausen und Grams sogar per Flash-Animation direkt ineinander über. Da kann man sich wundern, warum Veiel nicht all das abbekam, was nun Biesenbach und seine MitstreiterInnen sich anhören müssen. Dies zeigt jedenfalls eindrucksvoll, wie bis heute die Kunst überschätzt und der Film unterschätzt wird, wenn es um Meinungs- und Mythenbildung geht.

Hans-Peter Feldmanns Arbeit „Die Toten“, die jedem ums Leben gekommenen Täter und Opfer von der Studentenbewegung bis zur RAF ein Bild widmet und die ein Kernstück der Ausstellung in den Kunst-Werken sein soll, kommt ebenfalls nicht ohne das Mittel der Unschärfe aus: Feldmann wählt bevorzugt grobkörnige oder leicht fehlbelichtete Fotos, womit viele der Personen nur mäßig gut zu erkennen sind. Die Neugier, die die Rückführung ideologischer Auseinandersetzungen auf konkrete Menschen zuerst weckt, wird also gleich wieder enttäuscht – aber dann dadurch nochmals angefacht, dass Feldmann in der Textlegende nur äußert knapp erläutert, um wen es sich jeweils handelt. Wie bei Richters Zyklus will der Betrachter also unbedingt mehr wissen, als er zu sehen bekommt, leidet geradezu unter dem Entzug an Information und Erzählung, aber auch unter der Weigerung des Künstlers, das Gezeigte eigens zu bewerten.

Innerhalb der geplanten Ausstellung übernähme den Part des Informierens und Wertens eine historisch-dokumentarische „Abteilung“, mit der der Bildungshunger gestillt werden könnte, der durch die Kunst entstünde. Insofern könnte es sich sogar um ein schlaues Konzept handeln, wenngleich zu fragen ist, ob es der Kunst gerecht wird, wenn man sie als appetizer verwendet und die durch sie erzeugten Leerstellen im nächsten Raum sofort stopft – anstatt den Besucher damit allein zu lassen und ihm so auch die Ambivalenz jenes Schweigens der Kunst bewusst zu machen. Auf jeden Fall wäre diese Abteilung und weniger die Kunst für den Tenor der Ausstellung – für Auratisierung oder Ernüchterung – verantwortlich.

Tatsächlich zeichnet es die wichtigeren künstlerischen Arbeiten zur RAF aus, sich auf eine Entscheidung zwischen Mythisierung und Entmythisierung gar nicht erst einzulassen und so eine Konkurrenz mit dem Film und anderen Medien zu vermeiden. Viele Künstler haben begriffen, dass sie dabei notwendig die Verlierer wären, und wählen deshalb lieber bild- und selbstreflexive Verfahren. Allein deshalb ist die gegenwärtige Debatte so absurd, da sie in antiquierten Kategorien geführt wird, die Charakter und Intention der zeitgenössischen Kunst überhaupt nicht mehr gerecht werden. Dies begreift am besten, wer Johan Grimonprez’ Video „Dial H-I-S-T-O-R-Y“, den wohl wichtigsten künstlerischen Beitrag zum Terrorismusthema, anschaut, der zuerst 1997, auf der documenta X, gezeigt wurde. Das rund einstündige Video versammelt Ausschnitte von realen oder in Spielfilmen inszenierten Flugzeugentführungen, aber auch aus Schulungsfilmen, und bietet insgesamt ein Kompendium grausamer, absurder, unglaublicher Bilder, vor allem aber einen Abgesang auf die Möglichkeiten der Kunst.

Grimonprez führt nämlich vor, wie sich Flugzeugentführungen (und Terroranschläge) parallel zur Entwicklung der modernen Massenmedien entwickelt haben und mit welchem Pathos die Entführer wie auch der Staat jeweils versuchen, die Zuschauer emotional auf ihre Seite zu bekommen. Gerade die Terroristen nutzen Bilder der Gewalt, um ihre Ideen zu verbreiten, und mittlerweile gehören die Bilder von Terroranschlägen zu den wenigen wirklich globalen Ikonen. Ein Künstler hingegen hat keine reelle Chance mehr, Bilder von vergleichbarer Reichweite und Dringlichkeit zu produzieren, weshalb er (wie Grimonprez selbst) am liebsten zitiert, sammelt und neu anordnet, was die Massenmedien – und damit gerade auch Terroristen – liefern. Auf einmal erscheinen die Künstler also als die eigentlichen Opfer des Terrorismus, und dass ihre Arbeiten sich aufs Unscharfe zurückziehen, stumm werden und nicht mehr werten, verrät den Machtverlust der Kunst. Diesen zu thematisieren, wäre die eigentliche Aufgabe einer Ausstellung über die RAF und die Kunst, und vielleicht wäre das dann auch ein erster Schritt, um künftig Debatten zu vermeiden, bei denen so getan wird, als kämen die starken – die gefährlichen oder destruktiven – Bilder von den Künstlern.

Von Wolfgang Ullrich erschien zuletzt: „Tiefer hängen. Über den Umgang mit der Kunst“, Wagenbach Verlag Berlin, 2003, 11,90 Euro