Die Dramaturgie sieht rot

Die perfideste Vergewaltigungsszene, die derzeit auf dem Markt ist: In seinem umstrittenen Film „Irreversibel“ versucht der Regisseur Gaspar Noé mit einem Maschinengewehr von der Leinwand zu schießen – und zielt dabei ziemlich daneben

Ausgerechnet im Moment der Aggression kommt die Kamera zur Ruhe

von ANDREAS BUSCHE

Es gibt einen Vorlauf zu diesem Filmstart. Seit der Cannes-Premiere im vergangenen Jahr wurde Gaspar Noés Film „Irreversibel“ von einem lautstarken Sturm der Empörung begleitet. Dennoch promotete der Regisseur seinen Film stets mit provozierender Lockerheit und konnte dabei gar nicht oft genug betonen, welchen Spaß ihm und seinen beiden Hauptdarstellern Vincent Cassel und Monica Bellucci die Dreharbeiten bereitet haben. Für diejenigen, an denen die Diskussionen um „Irreversibel“ bisher vorübergegangen sind, sei kurz erklärt, dass die schlichte Prämisse von Noés Film darin besteht, wenig zu erzählen – dies aber in umgekehrter Reihenfolge. „Irreversibel“ beginnt mit den Schlusscredits und arbeitet sich in zwölf Szenen bis zu seinem Anfang vor.

Diese Umdrehung der Chronologie ist keineswegs als narrativer Gimmick gedacht, sondern mehr noch als die unmittelbare Handlung der eigentliche Inhalt des Films. „Zeit zerstört alles“, wirft Noé an mehreren Stellen pseudophilosophisch in den Diskurs der Bildmontage. Der narrativen Gewalt, die er seiner Dramaturgie mit ihrer Verkehrung antut, hat er zudem eine szenische Gewalt gegenübergestellt, die direkt gegen den Zuschauer gerichtet ist.

Stein des Anstoßes sind zwei Szenen, die in ihrer Kaltblütigkeit selbst den nicht eben soften Kodex des Exploitationfilms mit Verachtung strafen. Die erste Szene spielt gleich zu Beginn (in der natürlichen Chronologie der Bilder also am Ende) in einem schwulen S/M-Club mit dem viel sagenden Namen „Le Rectum“ und gibt den Ton der weiteren Erzählung vor. Zwei Männer, Marcus und Pierre, stürmen wutentbrannt den Club, prügeln sich durch die dunklen Gänge, in denen die taumelnde Kamera wie beiläufig derbe Sexpraktiken einfängt, auf der Suche nach einem Mann namens „Der Bandwurm“. Als sie ihn schließlich gefunden zu haben glauben, bricht Marcus eine Schlägerei vom Zaun, in deren Verlauf Pierre dem Attackierten schließlich in einem blindwütigen Gewaltrausch den Schädel mit einem Feuerlöscher buchstäblich zu einer amorphen Masse prügelt. Die Kamera bleibt teilnahmsvoller Zeuge dieses spontanen Gewaltaktes, schlägt wie zur stimmungsvollen Untermalung dynamische Volten und rückt keine Sekunde vom Anblick des verstümmelten Opfers ab.

Die andere Szene ist in ihrer Konsequenz sogar noch weitaus perfider. Die Vergewaltigung Monica Belluccis in einer rot ausgeleuchteten Straßenunterführung, die sozusagen das Herzstück von „Irreversibel“ darstellt, ist vor allem wegen ihrer Länge von knapp zehn Minuten von Kritikern wiederholt scharf angegriffen worden. Entsprechend dem Diktum des Films, dass Zeit alles zerstöre, wird der Zuschauer über einen verstörend langen Zeitraum Zeuge eines beispiellosen sexuellen Akts der Vernichtung, dessen formale Inszenierung für das Opfer kaum Mitleid aufzubringen vermag.

Vergewaltigungsszenen im Film sind ein heikles Thema. Seit Ende der Achtzigerjahre ist vor allem im Zusammenhang mit der Darstellung von Vergewaltigungen im Kino die alte Grundsatzdebatte um die Bedingtheit einer ethischen Filmsprache immer wieder aufgenommen worden. Es liegt im Wesen des Filmapparats, dass durch Position und Perspektive der Kamera fast automatisch eine hierarchische Ordnung hergestellt wird. Die Schwierigkeit einer Darstellung besteht darin, das Gewaltverhältnis innerhalb des Bildes nicht im Blickverhältnis des Zuschauers auf das Opfer zu doppeln. In der Problematik der Zeugenschaft liegt das ethische Dilemma einer solchen Darstellung.

Man muss Noé zuallererst vorwerfen, dass er sich um die ethische Verantwortung eines Filmemachers nicht im Geringsten schert. Seine Inszenierung der Vergewaltigung Monica Belluccis gehört – nicht nur wegen ihrer Länge – zum Niederträchtigsten, was man im Kino seit langem zu sehen bekommen hat. Auch formal ist sein Umgang mit diesem Schockmoment mehr als bezeichnend. Während sich die Kamera fast den gesamten Film über auf Dogma-typischem Schlingerkurs befindet, kommt mit der Niederwerfung Monica Belluccis durch den Aggressor auch die Kamera zur Ruhe. In etwa einem Meter Abstand vom Opfer verharrt sie auf Bodenhöhe und verfolgt in einer langen, ungeschnittenen Einstellung bewegungslos den Vergewaltigungsakt. Die Position, die Noé wählt, ist eine klassische Stellung aus der Hardcore-Pornografie. Die Kamera ist frontal auf die Gesichter gerichtet; die Aktion wiederum ist ganz auf die Kamera ausgerichtet. Zerstörerischer und menschenverachtender ist Kino selten gewesen.

Worum es in „Irreversibel“ geht, ist schnell erzählt: Ausgehend vom Racheakt (der sich, Gipfel des Zynismus, letztendlich gegen die falsche Person richtet), erzählt der Film den Grund der Rache und darüber hinaus seine Geschichte zurück bis zum Moment einer unbeschwerten Zweisamkeit. Aber schon in der narrativen Dialektik der beiden Schlüsselszenen – der Umkehrung von Ursache und Wirkung – steckt ein grundlegender Irrtum Noés. Dramaturgisch kann seine Verkehrung schlichtweg nicht funktionieren. Die Tragödie wird zur Tragödie, weil da vorher etwas anderes, etwas Positives, diesen emotionalen Raum eingenommen hat: Romantik zum Beispiel. Indem Noé die Trägödie an den Anfang steckt, pervertiert er auch ein grundlegendes erzählerisches Prinzip – und das ohne nachhaltigen Effekt. Zwar nimmt er dem Racheakt durch diese Voranstellung seine kathartische Wirkung. Dafür muss schließlich aber die Vergewaltigung in ihrer manipulativen Ausführlichkeit als billige Rechtfertigung für eine primitive Law-and-Order-Mentalität herhalten.

Action-Altmeister Samuel Fuller hat einmal gesagt, man müsse mit einem Maschinengewehr von der Leinwand schießen, um das Publikum zu treffen. Noch nie ist diese Forderung von einem Filmemacher so katastrophal fehlinterpretiert worden.

„Irreversibel“. Regie: Gaspar Noé. Mit Monica Belluci, Vincent Cassel, Albert Dupontel. Frankreich 2002, 99 Minuten