Der letzte Rest

Kubikmeter, Fahrtwege, Entsorgungskosten – Peter Keils Job ist es, Hinterbliebenen Kosten für die Wohnungsauflösung ihrer verstorbenen Lieben zu kalkulieren

von SONJA WERDERMANN

„Tagebuch vom 01. 03. 1992 bis 15. 02. 1993“, steht in schwarzer Tinte auf dem Rücken des Aktenordners. Doch der Ordner ist leer. Wer da so penibel seine Memoiren festgehalten hat, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Wahrscheinlich ist der Tagebuchschreiber inzwischen verstorben – denn der Ordner stammt aus einer Haushaltsauflösung. Nun steht er im Gebrauchtwarenlager der Stadtreinigung, wo er für einen Euro zu kaufen ist.

„Erdgeschoss, 2 Zimmer, diverse Möbel für das Gebrauchtwarenlager“, steht auf Herrn Keils Auftragsformular. Peter Keil, 43 Jahre, ist Kundenberater bei der Berliner Stadtreinigung. Seit neun Jahren macht er Kostenvoranschläge für Haushaltsauflösungen, zuvor hat er mehrere Jahre lang als Fahrer Wohnungseinrichtungen abtransportiert.

Ein Mann mit strähnigem schwarzen Haar, Ende fünfzig, öffnet ihm die beige gestrichene Wohnungstür. „Komm Se rein.“ Ohne Umschweife kommt er zur Sache. „Wir sind eingerichtet, mein Sohn ist eingerichtet – was sollen wir damit?“ Er deutet auf die Polstergarnitur im Wohnzimmer, auf die dunkle Schrankwand dahinter. „Muss alles weg. Wir brauchen nichts davon.“ Er spricht laut, ist etwas rot im Gesicht. „Kein Problem, wird alles abgeholt.“ – „Die hat sich neue Schuhe gekauft, da im Schrank, und Kleider, die hat sie noch nicht mal angehabt, gucken Se.“ Energisch weist er auf einen Stapel T-Shirts, der noch eingeschweißt in einem Regal lagert.

Bis auf die paar Möbel wirkt die Wohnung kahl. Herr Keil geht durch die Räume, prüft Schrankinhalte, macht sich Notizen. Die Einrichtung von Küche, Flur, Bad, der Dreisitzer im Wohnzimmer sind schnell erfasst. Ist auf dem Balkon noch was? Nichts. Keine zwanzig Minuten und die Liste ist abgehakt.

Ein Schlüssel wird im Schloss herumgedreht. Eine Frau kommt herein, starrer Blick, kurzes blondes Haar. Sie hat dunkle Augenringe, trägt Schwarz – vermutlich die Tochter der Verstorbenen. Sie begrüßt die Anwesenden nicht. Man steht schweigend im Flur herum. „Die Textilien – sollen wir die selber einpacken, oder soll die Firma das machen?“, fragt ihr Mann sie. Keine Antwort. „Es kostet aber, wenn unsere Jungs das machen“, erläutert Herr Keil. „Zwölf Säcke verpacken, sechzig Euro.“ Die Frau steht weiter schweigend da. „Sagen Sie uns einfach Bescheid. Sollen wir solange mal in den Keller gehen?“ Man lässt sie in der Wohnung allein.

Später, im Wohnzimmer, tippt Herr Keil Posten in seinen Taschenrechner. Die Frau sitzt unbeteiligt auf einer Sessellehne und raucht. „431,50 Euro, dann wär die Wohnung leer. Ohne dass Sie noch einen Handschlag machen.“ Die Modalitäten werden geklärt. Dreißig Minuten später ist der Besuch beendet.

Über die Verstorbenen erfährt jemand wie Peter Keil wenig. Weder ihren Todestag, noch woran sie gestorben sind, auch nicht, ob der Tod überraschend kam und wo sie ihre letzten Tage verbracht haben. Wie die Hinterbliebenen zu ihnen standen, kann Keil anhand der Reaktionen der Kunden nur erahnen. Natürlich könnte man die Angehörigen fragen – und viele würden sogar gerne reden. Doch Peter Keil fragt nicht mehr. Er ist kein Seelsorger. Die Vorgeschichte der Leute gehört nicht zu seinem Job. Auch darüber, ob die Kunden mit dem Verstorbenenen verwandt waren, macht er sich inzwischen nicht mehr viele Gedanken. Manchmal ist es ein Bekannter, der die Aufgabe der Haushaltsauflösung übernimmt. Aber für Peter Keils Arbeit spielt das keine Rolle – Auftraggeber ist Auftraggeber.

Mit der rechtlichen Seite muss er sich nicht herumschlagen, wenn Auftraggeber und Rechnungsempfänger identisch sind. Nicht mit den Erbstreitigkeiten zwischen Geschwistern, wenn einer aus Missgunst dem anderen gegenüber die gesamte noch verwertbare Hinterlassenschaft der verstorbenen Mutter klammheimlich abtransportieren lässt. Oder mit Enkeln, die vorschnell die Wohnung ihres hochbetagten Großvaters räumen lassen, der mit Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert worden ist, zum Erstaunen aller nach Monaten aber doch wieder auf die Beine kommt.

Ein paar Straßen weiter, fünfter Stock, Neubausiedlung. Die Frau, die die Tür öffnet, sieht müde aus. Hinter ihr in der Wohnung macht sich Chaos breit. Es sieht nach viel Arbeit aus: Möbel und Boden sind übersät mit Gegenständen. Geschirr, Stifte, Briefe, Elektrogeräte und Stapel von Büchern, Vasen, dazwischen der ausgeleerte Schreibtischinhalt und eine Medikamentensammlung. Im Nebenzimmer stapeln sich Kleidersäcke mit Rotes-Kreuz-Aufdruck, im Bad der Inhalt ausgeräumter Schränke plus Badeschlappensammlung. Auf dem Wohnzimmerboden eine Herrenhutkollektion. Wahrscheinlich ist es ihr Vater, der gestorben ist.

„Was ist mit dem Geschirrspüler?“ –„Der kann weg.“ – „Und der Herd?“ – „Ja, alles weg“, sagt sie mit fester Stimme. Herr Keil durchquert das Wohnzimmer mit dem verschlissenen Teppich und der verblichenen Tapete. „Gibt es noch ein drittes Zimmer?“ – „Jaa“, seufzt sie. Es gibt sogar noch ein viertes Zimmer, voll gestellt mit Schrott, alten Pappkartons, Styroporverpackungen und wer weiß was. „Das kann auch alles weg. Ich guck’s gar nicht mehr durch.“ Sie nimmt zwischen den Kisten Platz und stützt den Kopf in die Hand, während Herr Keil Kubikmeter, Transportwege, Stockwerke auf seiner Liste berechnet.

Die Kosten für den Abtransport der Überreste eines Lebens. „Die lose gelagerten Abfälle schlagen mit 425 Euro zu Buche – weil hier noch viel rumsteht.“ – „Au weia.“ – „Die große Einbauschrankwand zählt auch als Sperrmüll – wegen der Sondermaße. Will keiner mehr haben.“ Die Gesamtrechnung: 890,20 Euro. „Du meine Güte!“ – „Sollen wir schon einen Termin abmachen?“

An diesem Tag hat Herr Keil die Besuche zügig abgewickelt – fünf Besichtigungen in vier Stunden, Fahrtzeit durch die Stadt inklusive. Aber es gibt auch Tage, an denen es nicht so glatt läuft. Tage, an denen Tränen fließen. Wo er auf Menschen trifft, die vollkommen überfordert sind mit ihrer Trauer, der Rennerei, der Organisation der Beerdigung und der Wohnungsaufgabe. Wo er Zögerlichen begegnet, die sich nicht entscheiden können, ob sie das Klavier, auf dem sie als Kind spielen gelernt haben, wirklich dem Abtransport übergeben, das Bett, in dem sie womöglich gezeugt wurden, dem Sperrmüll überlassen sollen.

Am Anfang habe ich zu viel zugehört.“ Peter Keil ist ein gemütlicher Typ, leichter Bierbauch, roter Bart, zwei Kinder. „Nach einem halben Jahr im Job habe ich dann erst mal Gürtelrose gekriegt.“ Heute ist er abgeklärter und lässt sich viel weniger auf die Leute ein. Nur wenn er mit einer Tour zügig durchgekommen ist und am Ende merkt, dass da Redebedarf ist, bleibt er manchmal noch auf einen Kaffee.

Aber er geht gerne zu seiner Arbeit. Man muss kontaktfreudig sein und gleichzeitig „die Emotionalität abschalten können“. Man kommt viel rum, sieht viel Kurioses. Auch weniger Schönes. Da gibt es die so genannten Messie-Wohnungen, in denen die Verstorbenen ihren Hausmüll aufgehoben und nur noch in der Mitte einen schmalen Gang zum Durchgehen freigelassen haben. So eine Wohnung begegnet ihm im Schnitt einmal im Monat.

„Man steht jedes Mal wieder vor einer Tür und weiß nicht, was einen erwartet.“ Vieles hätte auch er sich lieber erspart: zurückgelassene Haustiere, in ihren Kothaufen verendet. Wohnungen voller Hundeflöhe, die – tagelang ausgehungert – auch auf den Menschen überspringen. Die Überreste einer verkohlten Barbie-Sammlung im ausgebrannten Kinderzimmer eines sechsjährigen Mädchens. Spuren von Haushaltsunfällen, Blutflecken auf Teppichen. Leichenwohnungen mit hunderten von Fliegen. Eindrücke, die man nicht so schnell vergisst.

Aber Gott sei Dank gibt es auch viele schöne Wohnungen in der Stadt. Inzwischen überwiegt für Peter Keil der Pragmatismus bei der Arbeit: Hinterlassenschaften unterteilen in verwertbare Waren für die kostenlose Abfuhr und Sperrmüllgüter für die kostenpflichtige Abfuhr. Kubikmeter abschätzen, Parkmöglichkeiten für die Transportwagen ausmachen. Auflisten, wie viel Stück Elektroschrott, wie viele Säcke Altkleider anfallen. „Wiederverwendung vor Verwertung, Verwertung vor Beseitigung“, lautet das Motto der Firma. Letztendlich zählt der Nutzenaspekt: Zimmerpflanzen landen meist auf dem Müll, auch Guppies sind „nichts Hochwertiges“; da ist es Ermessenssache, ob man die Suche nach einem neuen Besitzer auf sich nimmt oder den Aquarieninhalt stillschweigend ins Klo kippt.

„Viele Leute denken, Haushalte aufzulösen wäre ein nostalgischer Job, weil man den ganzen Tag in alten Sachen herumstöbern kann. Die Fahrer haben aber gar keine Zeit, ewig herumzusortieren: Es geht darum, in ein paar Stunden eine Wohnung leer zu machen – da ist wenig Platz für Sentimentalität.“

SONJA WERDERMANN, 27, ist freie Journalistin. Zurzeit sucht sie ein Zimmer in Berlin