Genug ist vielleicht genug

Die Gruppe Brainstorm kommt aus Lettland und will endlich auch außerhalb der baltischen Heimat Erfolg haben und an den Futtertrögen des europäischen Popbusiness Platz nehmen. Doch wer oder was hindert sie daran? Ein Besuch bei ihrer Promotour in Köln

von JAN FEDDERSEN

Die Hoffnungsträger empfangen um drei. Punkt drei. Nicht eher. Vorher ist ein Shooting zu bewältigen. Bravo hat sich angemeldet und signalisiert, sie auf einer Doppelseite zu präsentieren. Das wär doch was: Fünf junge Männer aus Lettland, die hierzulande eigentlich nur Gitarrenpopspezialisten sowie Menschen kennen, die ein ausgesprochen unerschütterliches Faible für den Grand Prix Eurovision haben, werden quasi starschnittfähig und damit anbetungswürdig.

Was an diesem Nachmittag sofort eine Atmosphäre verströmt, als sei der Triumph endlich in Sichtweite: dass sich fünf Musiker aus einem randständigen Land Europas an den Futtertrögen des angloamerikanischen Popbusiness satt essen dürfen. Denn das wäre ja die halbe Miete: dass diese Band namens Brainstorm vom Zentralorgan der deutschen Jugend ins Licht gesetzt wird. Wer von denen Aufmerksamkeit bekommt, ja geschenkt erhält, hat, „so rein promomäßig gesprochen“, wie es Marc Zumkeller von der Major Company EMI tut, schon sehr viel erreicht.

Und das soll noch mehr werden. Der Musikkanal Viva hat versprochen, die Singleauskopplung aus dem aktuellen Album „The Day Before Tomorrow“ in die Tagesrotation zu nehmen, „Closer“ habe das Zeug zum Flug in die Charts. Bild am Sonntag hat sich ebenfalls zum Gespräch angemeldet, das müsste alles in allem gute Laune machen. Und während Zumkeller in seinem Büro den Live-Chat vorbereitet, sitzen die fünf Männer mit ihrer Managerin Guna Zucika in einem Raum und wirken ein wenig abgespannt, ja fast müde. Desinteressiert?

Hattet ihr einen guten Flug? Die Frage war allgemein an alle gestellt, aber es antwortet Renars Kaupers, Frontmann der Gruppe, der Sänger, der mit seiner falsettfähigen Stimme den Stücken Brainstorms ein gewisses Quäntchen Unverwechselbarkeit gibt. „Oh ja, alle sind gesund, alle sind gut drauf.“

Ist denn der Termin in Köln in der Konzernzentrale bedeutsam, wart ihr nervös, ehe es zur Akquisetour nach Deutschland ging? „Nein, wir kennen das Haus“, sagt wieder der Leader of the Pack, „wir sind ganz entspannt.“ Immerhin, Gitarrist Johny U. White sagt, dass er sich „freut, hier mal wieder vorbeizugucken“. Schafft ihr endlich die gesamteuropäische Karriere mit dem neuen Album? Der Gitarrist namens Magic lächelt etwas müde: „Ja, natürlich, Deutschland ist ganz toll.“

War die Nacht zuvor etwas zu lang geraten? Oder sind sie vielleicht etwas zu lange im Geschäft, um diese Spur Aufgeregtheit wenigstens spielen zu können, dieses Lampenfieber, diese Aura von „Jetzt geht’s los“? 1993 haben sie, die als Schüler schwedisches oder finnisches Radio auf Mittelwelle bevorzugten, weil nur von dort garantiert Osteuropafreies über den Äther geschickt wurde, zusammen angefangen. Nannten sich – man weiß ja nie – für den internationalen Gebrauch „Brainstorm“ und in Riga und Umgebung „Prata Vetra“. Schrummelten gekonnt auf ihren Gitarren, wussten Keyboards, Akkordeon und Glockenspiel zu bedienen – und wurden zu Popgöttern in der Heimat. Sie klangen einfach am modernsten, kein Gran landestypische Polka im Gepäck – und weil Kaupers Stimme nicht klang wie die anderen. Aber nichts lässt sich restlos erklären, denn wunderlicherweise, trotz entschiedener Neigung zum Rock, wurde Brainstorm auch von den Eltern ihrer Fans gemocht – und das wirkte sich nicht einmal rufschädigend aus.

Im Gegenteil. Persönlich an Aufnahmen von Oasis, R.E.M., Prefab Sprout, Depeche Mode oder U2 geschult, waren sie Stars im Baltikum – neulich erst wieder in Riga vor zwanzigtausend Leuten auftretend –, ehe vor knapp vier Jahren das lettische Fernsehen auf die Idee kam, selbst mal am Grand Prix Eurovision teilnehmen zu wollen. Und wer hätte da besser geeignet sein sollen als eben Brainstorm?

Haushoch gewannen sie die lettische Vorentscheidung und fuhren als erster lettischer Act bei der Eurovision Ende Mai 2000 nach Stockholm – als absolute Außenseiter, nicht einmal ahnend, dass da mehr als ein Konzert auf dem Programm steht, sondern am Ende über sie abgestimmt wird. Am Ende wurden sie verehrte Dritte: Erstmals hatte eine Band, die eine echte Geschichte hat, eine, in der echte Musiker spielen, die sich nicht erst eine Viertelstunde kennen, eine Gruppe, die der Alternativszene viel näher steht als jeder Schlagerrüschigkeit, so erfolgreich bei der Eurovision abgeschnitten.

Aber hatte überhaupt jemand zugehört? Waren unter den zweihundert Millionen Zuschauern auch Manager, die ihnen eine Chance geben würden außerhalb des Baltikums? Es folgten zwei CDs, Mails wurden nach Köln in die Konzernzentrale geschickt, aber Deutschland, schon gar nicht England hatten nicht auf sie gewartet. Was nützte es, eine schöne Ballade wie „My Star“ vorgestellt zu haben, wenn alle Lieder doch irgendwie klangen wie R.E.M., a-ha oder Oasis? Nein, hieß es aus Köln, kein weiteres Vermarktungsinteresse.

War das eine schwere Zeit? „Nein, wir hatten ja genug zu tun“, sagt Kaupers. Das hatten sie wirklich. Auftritte zwölf Dutzend im Jahr, als Vorgruppe rührig bei Depeche Mode, den Cranberries oder den Stones, wenn die auf dem Gebiet des früheren Ostblocks Tourstation machten – Brainstorm kann sich nicht beklagen. Aber der Stachel saß dann doch tief: „Zu wissen, dass man es gut kann und doch keine Sau einem ’ne Chance gibt“, ergänzt Magic, der Gitarrist, „das ist ärgerlich.“

Sie konnten ja nicht ahnen, dass der Grand Prix ein zwiespältiges Geschäft bedeutet – viel Aufwand für die meisten Länder, aber, von Ausnahmen abgesehen, wenig Umsatz im Tonträgergeschäft. Doch es gibt zweite Chancen, auch für das Quintett vor anderthalb Jahren, als ihre Kollegin Marie N für Lettland die Eurovision gewann. Brainstorm wurde daraufhin nach Deutschland eingeladen, bei der Grand-Prix-Vorauswahl sangen sie als Pausenact. Mit dabei: der bis dahin nicht sehr motivierte Marc Zumkeller, Product Manager bei der EMI. Aber als er sie hörte, sagte er: „Die sind geil, echt gut, ja, um die kümmer ich mich.“

Nebensächlich, dass die fünf Jungs ihre lettischen Namen für die internationalen Ansprüche lassen mussten, dass aus Gundaru Mausevicu Mumins wurde, Janis Jubalts zu Magic mutierte, Roga Kaspars irgendwie ein Nick Rogue sich verpasste, Maris Mihelsons sich entschied, dass Mike Minolta besser klingt – und Renars Kaupers seinen Namen zum Reynars Cowper anglisierte. Soll ja später nicht heißen, die exotischen Namen hätten von irgendeinem Kauf abgehalten.

Und was machte es, dass die schon fertige neue CD nicht zum Grand Prix auf dem Markt war, als Renars Kaupers mit Marie N die Show aus Riga moderierte. Aber das Produkt selbst hätte kaum gefälliger geraten können. Die Coverfotografie vom Starfotografen Anton Corbijn, der die Band winterlich vor einem Autokino inszenierte und sie überhaupt dezent in Interieurs abbildete, die unfertig wirken, als ließe sich in ihnen besser grübeln über das Leben an sich – glamourarm, bewusst unschick. Die Lieder entsprechen dem, was man auch bei Starbuck’s hören kann, nicht zu aufregend, aber irgendeiner Originalität auf der Spur.

Kein Song klingt allerdings anders, irgendwie wenigstens. Ob „Tonight We’ll Dance“ oder „Passion“, „Colder“ oder „For A Better Life“: Gitarren und Violinen haufenweise, nichts ist rau, alles im Strom irgendwo zwischen a-ha und Grönemeyer. Und das ist vielleicht der Preis, den man zahlen muss, um außerhalb der Pop-Peripherie gehört zu werden. Abba, die Cardigans, Roxette oder Ace of Base haben das auch erfahren müssen: Heimatliche Folklore wird nur unter Eingeweihten geschätzt, verkäuflich ist das nur schwer.

Nur ein Titel enthält einen Schemen der Musiktradition des alten Lettland, in ihm schimmert eine Polka durch. Womöglich ein bäuerlicher Restbestand im Alltag der Gruppe, deren Helden ja allesamt auf dem Land groß wurden. Und das ist schade, weil sie jetzt, da die Band das starke Interesse von Produktmanager Marc Zumkeller hinter sich weiß, doch etwas verwechselbar klingen. Ein Fehler übrigens, den die zwei Frauen und zwei Männer von Abba nie machten: Abba waren extraordinär genug, dass bei ihnen zwei Leadsängerinnen den Ton angaben, sie trugen obendrein extrabizarre Textilien, um sich jeder Verwechselbarkeit zu entziehen – und ließen doch in jedem Song das Erbe schwedischer Volksmusik anklingen. Brainstorm hingegen sehen auch äußerlich aus wie eine Band, deren Outfits irgendwo zwischen Schlabber und Turnschuhkorrektheit changiert – aber damit fallen sie nicht mal mehr in Riga auf.

Stattdessen prunkt man mit Referenzen von arrivierten Kollegen. Michael Stipe – der Michael Stipe von R.E.M. – hat gelegentlich eines Interviews, das Kaupers mit ihm für eine polnisches Zeitschrift führte, nicht vergessen, zu erwähnen, dass er Brainstorms Musik schön finde. Und Bob Dylan muss auch so etwas gehört haben, denn, so heißt es vom Idol der Prata Vetras, ihn berührten doch die anmutigen Worte im Song „Fairytales“ sehr.

Was wäre, würden sie mit ihrem neuen Album nicht so recht landen können in Deutschland? „Oh, das wäre schade“, sagt Kaupers, „wir haben daran sehr lange gearbeitet.“ Womit er ja Recht hat – aber kann das schon ein Argument sein, sie zu lieben, ja, ihre Produkte zu erwerben? Ist diese Werbetour in Mitteleuropa ihre letzte Chance, es jenseits Osteuropas zu Ruhm zu bringen? Kaupers meint: „Vielleicht, aber wir haben in Lettland ein gutes Leben.“ Seine Kollegen nicken, und Gitarrist Magic fügt an, es sei toll, „wenigstens die Möglichkeit zu haben, sich vorzustellen“.

Ehe der nächste Termin beginnt, erzählt Marc Zumkeller, dass man die Zusage von der Daily Soap „Marienhof“ habe, die Single „Colder“ in drei Folgen im Hintergrund zu spielen (wie nächste Woche zu hören sein wird). Vielleicht hilft das dem Erfolg von Brainstorm auf die Sprünge. Auch Viva hat den Titel ins Programm genommen, ein halbes Dutzend Mal ist er bisher gespielt worden.

Aber nichts ist sicher, alles ein Experiment, das weiß Zumkeller, dieser kleine, kräftige Mann, der seinen Job so beherzt wie anteilnehmend versieht, selbst genau. Ein Rezept, wie man eine Band ins Bewusstsein von Massen hebt, hat natürlich auch er nicht. „Ich finde immer noch, dass es sich für die fünf Jungs lohnt.“ Bravo ließ später mitteilen, dass man mit den Letten weder eine Fotostrecke noch ein Interview plane.

Es scheint, als seien Brainstorm als Teenagerware nicht verführerisch genug gewesen. Enttäuschend. Auch Spex, Meinungsmacher unter den Magazinen, hat abgewinkt. Dabei sind sie gut, sehr gut, begabt und ambitioniert. Es könnte nur ein bisschen zum Durchbruch gefehlt haben. An welchem Detail auch immer – an dem hängt es.

JAN FEDDERSEN, 46, ist taz.mag-Redakteur