Keine Kraft für Visionen

Die EU-Kandidaten in Osteuropa haben bislang alle freudig dem Beitritt zugestimmt. Im Westen wartet man jedoch nicht gerade auf sie. Das zeigt eine neue Studie

So haben sich die Osteuropäer ihre Rückkehr nach Europa nicht vorgestellt. Kaum war die Berliner Mauer gefallen, meldeten sie ihren Wunsch an, dem Wohlstandsclub EU anzugehören. Seitdem klar ist, dass die Anpassung an Demokratie und Marktwirtschaft überall Schmerzen verursacht, hält sich auch die Euphorie für den EU-Beitritt in Grenzen. Subventionen und Strukturhilfen werden ja auch recht dürr ausfallen. Dementsprechend niedrig ist die Wahlbeteiligung bei den gerade laufenden Referenda.

Dass die Notwendigkeit der politischen Umgestaltung mit der Wende zur Demokratie noch längst nicht zu Ende, sondern mit dem Beitrittsvorhaben erst recht akut ist, das versucht ein neuer Sammelband des Göttinger Zentrums der Europa- und Nordamerika-Studien aufzuzeigen. Von elf Beiträgen befassen sich alleine fünf mit Polen, dem Land, das aufgrund seiner Größe und geografischen Nähe hierzulande die größte Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Neben schon oft diskutierten Themen wie dem Anti-EU-Populismus oder der Grenzregionproblematik gibt Joanna Regulska einen guten Einblick in die Gleichstellungspolitik der EU und die Verhandlungsposition der Polen.

Die Autorin beklagt etwa, dass das katholische Milieu Polens einen zu großen Einfluss auf die Verhandlungsführung bezüglich der Frauenrechte nahm. Nicht zuletzt habe die Kirche ihre Zustimmung zur EU-Integration von der Haltung der Regierung zur Abtreibungsfrage abhängig gemacht. Die EU setze in ihrer Gleichstellungspolitik doppelte Standards, lautet der Vorwurf der Autorin.

Jürgen Dieringer weist darauf hin, dass die Regionalpolitik der EU zentralistisch organisierten Staaten die Übernahme einer föderalen Struktur aufzwinge. Politisch-administrative Traditionen des Landes spielten keine Rolle, was er überzeugend am Beispiel Ungarns ausführt.

Diese zwei Beiträge stehen exemplarisch für die Vielfalt der Themen dieses Buches. Kurioserweise passt der stärkste Beitrag dieses Sammelbandes kaum zum Buchtitel und dem ursprünglichen Ziel, die Anpassungsprobleme zu erläutern. Holger Münch untersuchte die Berichterstattung der deutschen Qualitätszeitungen zur Erweiterung der Union. Ausgehend von der Feststellung, dass politische und journalistische Eliten in Deutschland die Osterweiterung im Grundsatz befürworten, stellt er die Frage, weshalb die Mehrheit der Bevölkerung in der Ablehnung verharrt.

Bei einer qualitativen und quantitativen Analyse zeigt sich, dass die jeweils auf Teilaspekte der Erweiterung bedachten Artikel eher die Probleme als die Vorzüge der erweiterten Union erhellen. Dass die Auswertung sich nur auf die Artikeltexte bezieht, die Bilder aber auslässt, ist ein Manko. Denn Berichte über Agrarsubventionen illustriert man besonders gern mit polnischen Pferdewagen, um die Rückständigkeit östlicher Landwirtschaft zu belegen.

Die positive Darstellung der Osterweiterung bleibt, so Münch, oftmals Publizisten aus den Beitrittsstaaten überlassen, weshalb zum Beispiel in der Zeit, die ihnen am meisten Platz einräumt, am häufigsten positive Argumentationen vorzufinden sind. Die FAZ folgt mit einigem Abstand. Deutlich zu Ungunsten der Osteuropäer argumentieren der Spiegel, taz und Focus. Das alles, wie gesagt, vor dem Hintergrund, dass alle untersuchten Medien die Erweiterung prinzipiell begrüßen. Auffallend ist, dass Argumentationslinien für die Osterweiterung zumeist defensiven Charakter haben. Man ist damit beschäftigt, „gegen Vorurteile anzuargumentieren, um Vorbehalte zu neutralisieren. Für eine positive Vision darüber hinaus fehlt offenbar die Energie.“ Darin sieht der Autor den Grund für das Unvermögen der Politiker und Journalisten, die Bevölkerung für die Osterweiterung zu gewinnen. RICHARD HEIMANN

Zentrum für Europa- und Nordamerika-Studien (Hg.): „EU-Beitritt. Verheißung oder Bedrohung?“, 278 Seiten, Leske & Budrich, Opladen 2003, 24,80 Euro