strübel & passig
: Gott rendert nicht

Die Großbaustelle des Lehrter Stadtbahnhofs war in den letzten Jahren eine der grafisch aufwändigsten Ansichten von Berlin, besonders von der S-Bahn aus betrachtet. Die vielen Stützen, Streben und Gerüste, die in elegantem Parallaxenscrolling vorübergleiten! Überzeugende Befestigungen an allen Verbindungsstellen ohne Clippingfehler, kein Backface Culling und so gut wie ruckelfrei! Es ist beeindruckend und ein bisschen ungerecht, dass die Natur diesen ganzen komplizierten Anblick so mühelos in Echtzeit rendert, und das ja schließlich nicht nur für mich, sondern auch für die ganzen übrigen S-Bahn-Passagiere entsprechend versetzt. Andere BVG-Kunden kriegen für ihre zwei Euro zwanzig nur einfarbige U-Bahn-Schacht-Hintergründe, und selbst bei der teuren Bahn ziehen häufig nur lieblos gekachelte ICE-Lärmschutztrassenwände und Copy-und-Paste-Wälder vorbei.

 Im Urlaub trumpft die Natur mit ihrer Rechenleistung noch unverschämter auf als zu Hause, was die mitreisenden Programmierer persönlich kränkt. „Solche Wolken kann ich einigermaßen“, klagt Sven und deutet auf ein paar Zirrusfetzen, „aber die großen da drüben gehen gar nicht. Ich sitz da monatelang dran, und ein paar beschränkte Wassermoleküle machen das einfach so im Vorbeigehen!“ Neidzerfressen betrachtet er den blauen Himmel. „Die Natur hat aber auch mehr als 16,7 Millionen Farben, sonst kriegt man so einen Himmel gar nicht streifenfrei hin.“ Das kann eigentlich nicht stimmen, weil wir allesamt noch kleine Tiere mit einem lichtempfindlichen Loch in der Schädeldecke waren, als der Himmel erfunden wurde, und damals bestenfalls 16 Graustufen unterscheiden konnten. Aber Sven findet, das sei halt einerseits die Qualitätsreserve, an der man professionelles Projektmanagement erkenne, und andererseits sei ja dann auch ziemlich bald der Adler eingeführt worden.

 Dann blickt er weiter unglücklich aufs türkisblau und leichterhand vor sich hinwogende Meer hinaus, das nämlich noch viel schwerer zu rendern ist. „Sogar die Programmierer von diesem einen Schiffsuntergangsfilm mussten den Schaum mit einem hässlichen Hack oben aufs Wasser kleben“, sagt er ergrimmt. Das Meer wird gleich noch ein bisschen durchsichtiger vor Schadenfreude, reflektiert Caustics in alle Richtungen und tut dabei so, als wäre nichts. „Guckt mal“, sagt es, „das kostet mich alles so was von überhaupt keine Mühe, dass ich mich zum Beispiel sogar noch schäumend an diese Klippen da werfen könnte oder … oder Schiffe am Horizont vorbeiziehen lassen, la la la.“ Zähneknirschend starren wir in die Wellen. „Menno“, sagt Sven, „wenn man die Naturgesetze selbst festlegen kann wie Gott, UND dann alles in Hardware implementiert, dann ist das ja auch einfach, das ist ein uneleganter Brute-Force-Ansatz, so was mach ich dir in drei Tagen. Gut, beim Kunden würd ich sieben abrechnen. Aber wenn man den ganzen Kram reverse engineeren muss, ist man halt gefickt.“

 Wir werfen mit Steinen nach dem Meer, damit es wenigstens arbeiten muss für sein Geld und die zusätzlichen Wellen und ihre Überlagerungen ausrechnen. Dann haben wir die Schnauze voll und gehen im Ferienhaus die Wand anstarren. Nächstes Mal fahren wir dann vielleicht doch in die Antarktis, denn zwei, drei Polygone weiß anstreichen, das kann jeder. KATHRIN PASSIG

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