„Es ist nur ein Scheingefecht“

Wie Deutschland durch das Dosenpfand zu sich selbst findet: Ein Gespräch mit dem Soziologen Dirk Baecker über den puritanischen Kern des Pfands und die Symbolik der leeren Dose im Wald

Interview ALEXANDER SMOLTCZYK

taz: Das Dosenpfand ist nun beschlossen – aber es scheint, dass niemand die Verantwortung dafür übernehmen möchte. Man spürt diese seltsame Scheu im Gespräch mit Exbundesumweltministern wie Töpfer und Merkel genauso wie mit dem gegenwärtigen Minister Trittin, der gesagt haben soll: „Ich exekutiere ja nur, was meine CDU-Vorgänger beschlossen haben.“

Dirk Baecker: Vielleicht hat er dabei die Doppelbedeutung von „Exekutieren“ im Hinterkopf – zum einen etwas durchzuführen, zum anderen etwas aus der Welt zu schaffen? Das wäre dann ja in dieser Doppeldeutigkeit schon eine politische Akzentuierung.

Eine heroische Haltung?

Es ist die Haltung eines preußischen Beamten. Das hätte man den Grünen bisher gar nicht zugetraut.

Ist das Dosenpfand eine Art Experiment mit 82 Millionen Probanden?

Der Bürger wehrt sich gegen pädagogische Zumutungen, weil er glaubt, nicht mehr erzogen werden zu müssen. Doch in einem zweiten Schritt ist er zu dem Experiment bereit, weil er sich sagt, dass vielleicht nicht er selbst, aber doch mit Sicherheit sein Nachbar erzogen werden muss. Der Bürger persönlich wehrt sich gegen die politische Macht. Gleichzeitig ist er jedoch froh, dass es sie gibt, damit die anderen unter Kontrolle sind. Wenn die Kosten dieser Erziehung dann auch noch einem Dritten aufgehalst werden können, in diesem Fall der Industrie, dann liegt es nahe, nicht zu rebellieren.

Wäre solch eine Operation Dosenpfand in einem anderen Land außerhalb Nordkoreas und Chinas vorstellbar?

Ja, in Italien. Das Land steckt voll absurder bürokratischer Regelungen, die interessanterweise nur deswegen keine Verwirrung anrichten, weil sie sowieso keiner ernst nimmt.

So kann der italienische Staat furchtlos seine Dekrete erlassen …

Wir dagegen haben einen besonderen Spaß daran, an der Gesetzestreue vorzuführen, wie absurd es zuweilen ist, sich an Gesetzen zu orientieren. Nach dem Motto: Seht her, wir machen genau das, was ihr wollt, und jetzt sitzt ihr auf dem von uns getrennten und gesammelten Müll.

Können Sie inhaltlich irgendetwas Sinnhaftes an dem Dekret feststellen?

Die Idee, seinen Konsum mit Blick auf die Verpackung ökologisch zu reflektieren, halte ich für überzeugend. Und das ist es wohl auch, wofür man in Deutschland ein hinreichend ansprechbares ökologisches Gewissen unterstellen kann.

Der Bürger sagt sich, dass das Sinn macht, und leistet sich zusätzlich den Spaß, diesen Sinn bis zum Gehtnichtmehr auch ernst zu nehmen. Wenn die Ergebnisse der Maßnahmen unsinnig sind und er demächst mitbekommt, welche Lagerhallen angemietet werden müssen, um die Dosen unauffällig unterzubringen, das nimmt er in Kauf. Lieber sieht er, dass die Konsequenzen absurd sind, als dass er am Ursprungssinn des Ganzen zweifelt.

Das eigene Leid beweist, dass man etwas Sinnvolles getan hat: Ist das deutsch?

Das ist puritanisch. Oder mit Max Weber gesagt: Wir sind zu wenig Lutheraner, um so großzügig zu sein wie die katholischen Italiener. Wir ziehen die Ernsthaftigkeit und die Verbissenheit vor. Und wir haben eine große Lust, den anderen daraufhin zu beobachten, ob er sich an die Regeln hält.

Früher gab es Blockwarte, jetzt haben wir Tonnenwarte in jedem Mietshaus. Mit dem Erfolg, dass der Hausmüll inzwischen so rein ist, dass er mit Papier und Plastik angereichert werden muss, um noch in den Müllverbrennungsanlagen verwendet werden zu können. Aber es wäre undenkbar, die Haushalte aufzufordern, weniger scharf zu trennen.

Mich erinnert das Dosenpfand an den in der Künstlichen Intelligenz entwickelten Begriff des boundary objects, des Grenzobjekts. Das sind Objekte, deren Sinn darin besteht, für die sehr heterogenen Interessen verschiedener Nutzer, Entwickler, Anbieter und Nachfrager einen gemeinsam erkennbaren Schnittpunkt zu bieten.

Eine Tafel in einem Universitätsseminar ist so ein Grenzobjekt: Jeder erkennt die Tafel wieder, obwohl das, was der Dozent auf die Tafel schreibt, und das, was die Studenten an der Tafel lernen, oft nicht sehr viel miteinander zu tun hat.

Das Dosenpfand scheint mir ein Negativbeispiel für solch ein Grenzobjekt zu sein. Man hat sich auf das Dosenpfand gezwungenermaßen geeinigt, weil niemand damit etwas anfangen kann: die Ökologen nicht, wenn man sie unter vier Augen fragt, die Industrie sowieso nicht und vermutlich noch nicht einmal die Politik, wenn sie den Mut fassen würde, sich um Wichtigeres zu kümmern.

Im Dosenpfand konvergieren Interessen, die ein besonderes Interesse daran haben, vorzuführen, dass die nicht konvergieren. Das scheinen die Bürger begriffen zu haben. Sie machen mit, weil die Gelegenheit wie gerufen ist, um vorzuführen, dass die Typik solcher Problemlösungen keine Probleme löst. Wie die Italiener genießen es auch die Deutschen, die Gesellschaft sich selbst zum Spektakel werden zu lassen – nur eben bei anderen Gelegenheiten.

Ist das der Grund, weshalb man in Deutschland den Atomausstieg einfacher hinbekommt als die Bepfandung einer Bierdose? Nach dem Motto: Mit Atomkraftwerken spielt man nicht. Mit Dosen schon.

Na ja, mit der Frage des Atomausstiegs spielt man nicht. Man hat schon ein Gefühl dafür, mit welchen Grenzobjekten man welches Spiel machen kann und mit welchen nicht. Noch den auf den ersten Blick absurdesten Phänomenen eignet, wenn man soziologisch hinschaut, eine bestimmte Intelligenz der Selbstbeschreibung.

Und die Politik?

Es scheint eine stillschweigende Übereinkunft der Bevölkerung mit der Politik zu geben: Lass uns doch mal schauen, wie weit wir der Industrie nach wie vor Maßnahmen vorschreiben können. Man hat Spaß daran, wenn sich die Verbände erwartungsgemäß und scheinbar folgenlos aufregen. Man probt die Machtdurchsetzung, und dies umso lieber in einem Fall, in dem es nicht gleich ums Ganze geht: Mit wem bekommt man es eigentlich zu tun? Wer verfügt über welche Potenziale des Widerstands? Mit wem kann man sich gegen wen verbünden?

Es ist nicht von Schaden, so etwas zu wissen. Und warum nicht einen Fall inszenieren, an dem man das lernen kann?

Das wäre einer der wenigen Fälle, in denen sich die Bevölkerung mit der Politik verbündet.

So wenige Fälle sind das nicht: Denken Sie an die Steuerzahler, die Autofahrer, die Lehrer.

Die ideologische Welt, der Jürgen Trittin entstammt, ist der Vulgärmarxismus des Kommunistischen Bundes. Der hat immer gelehrt, dass die Politik gegen die Monopole letztlich keine Chance hätte. Zumindest im Getränkebereich hat Trittin selbst jetzt den Gegenbeweis angetreten.

Im Gegenteil. Trittin hat seine These bewiesen. Das sind doch Scheingefechte!

Natürlich sind mit dem Pfand gewisse Einbußen verbunden. Aber es geraten keine Märkte in Bewegung. Man schiebt einen Stellvertreterkonflikt vor, lässt die Politik gewinnen – was umso mehr Spaß macht, je energischer man sich wehrt (wozu hat man Verbände?) – und kann dokumentieren, dass die Industrie in Deutschland keine Macht hat.

Dosen machen nur 0,8 Prozent des sichtbaren Landschaftsmülls in Deutschland aus. Weswegen eigentlich die ganze Aufregung?

Die einzelne Dose im Wald hat nicht nur einen Verschmutzungseffekt. Sondern sie erinnert an die Anwesenheit der Mitmenschen. 0,8 Prozent sind dann ein Grenzwert, an dem nicht nur symbolisch, sondern sehr reell das Refugium des Waldes mit seiner unberührten Einsamkeit auf der Kippe steht.

Es ist ein Unterschied, ob ich drei Stunden durch einen Wald gelaufen bin und dabei nur Pilze gesehen habe oder ob mir dabei auch eine oder zwei weggeworfene Dosen ins Auge gefallen sind.