Der Muselmann von Auschwitz

Impliziert die Menschenwürde einen würdelosen „Nichtmenschen“? Giorgio Agamben führt seinen Essay „Homo sacer“ fort und analysiert die biopolitischen Bedingungen, die den Menschen seiner Menschlichkeit berauben: „Was von Auschwitz bleibt“

Im KZ treffen wir allein auf Unmenschen und auf Nichtmenschen

von NIELS WERBER

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Der Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland liest sich eher wie eine Tatsachenfeststellung als eine Norm, ganz also, als ob die Menschenwürde grundsätzlich nicht verletzbar sei. Tatsächlich hat sich die Menschenwürde aber immer wieder als antastbar erwiesen, beispielsweise durch „strategische Bombardierungen“. Den Tod von Zivilisten mag dann Michael Walzer moralisch rechtfertigen, menschenwürdig gestorben sind sie gewiss nicht. Normen schützen sich nicht selbst, und deshalb, so fährt das Grundgesetz fort, ist es die „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, die oberste Verfassungsnorm „zu achten und zu schützen“. Die Exekutive soll die Würde des Menschen schützen, schön und gut, aber wann und wie? Wer entscheidet darüber, ob die Menschenwürde angetastet worden ist? Kommt Barbaren, Schurken oder Unmenschen solch eine Würde überhaupt zu? Was ist überhaupt ein Mensch, und was seine Würde?

Die Antike hat den Menschen von Göttern und Tieren abgegrenzt, Sklaven allerdings gelegentlich als „beseelte Werkzeuge“ von frei geborenen Menschen unterschieden. Alle Definitionsversuche der Menschlichkeit des Menschen, etwa als sprechendes oder spielendes Wesen, laufen über Ausschlüsse: Wer keine Sprache hat, ist kein Mensch. Impliziert auch die moderne Menschenwürde einen „Nichtmenschen“, der „jeder Würde beraubt“ ist? Giorgio Agamben gibt in seinem Essay „Was von Auschwitz bleibt“ darauf nun eine radikale Antwort: Das „nackte Leben“, das nichtmenschlich und entwürdigt ist, das keine Sprache hat und keine Erinnerung, musste „abgetrennt werden und zu Grunde gehen, damit ein menschliches Leben Subjekten als eigenes zugeschrieben werden kann“. Im Typus des „Muselmanns“, des psychophysisch depravierten Auschwitz-Häftlings, hat Agamben das Paradigma dieses Nichtmenschen gefunden, der die „Begründung des Menschen“ erst ermögliche. Der Mensch wird zum Menschen in der Abspaltung des Nichtmenschen. Diese Perspektive stellt Agamben freilich „rückhaltlos in Frage“. Er hofft auf ein „messianisches Reich“ ohne derartige Spaltungen. Vorerst sei unsere Epoche aber die der Bio-Macht, die derartige Differenzen unaufhörlich produziere. Die Biopolitik „lässt Völker in Bevölkerungen und Bevölkerungen in Muselmänner übergehen“. Die andere Seite des Lebensraums eines Volkes sei der Todesraum all jener Bevölkerungen, die vom Volk abgespalten wurden. Man denke nur an die „ethnischen Säuberungen“.

Der Muselmann, zitiert Agamben Jean Améry, „hatte keinen Bewusstseinsraum mehr, in dem Gut oder Böse, Edel oder Gemein, Geistig und Ungeistig sich gegenüberstehen konnten. Er war ein wandelnder Leichnam, ein Bündel physischer Funktionen in den letzten Zuckungen.“ Immer wieder sprechen Zeugen vom Muselmann als lebendem Toten. Sie galten als Abfall oder Nichtmenschen. „Jedenfalls wissen die Juden in Auschwitz“, schreibt Agamben, „und dies wirkt wie eine grausame Selbstironie, dass sie nicht als Juden sterben werden.“ Zugespitzt könnte man behaupten, in Auschwitz seien keine Menschen vergast worden.

In seinem Aufsehen erregendem Buch über den „Homo sacer“ hat Agamben von der grundsätzlichen „biopolitischen Spaltung“ unserer Gesellschaft in Menschen einerseits und nacktes Leben andererseits gesprochen. Jeder moderne Staat bringe eine Zone hervor, in der Homini sacri anzutreffen seien, die getötet werden könnten, ohne damit einen Mord zu begehen, weil sie in gewissem Sinne keine Menschen darstellten, sondern nichts als nacktes Leben.

Davor sollten die von der UNO „allgemein erklärten“ Menschenrechte eigentlich schützen, gewiss, aber wer setzt sie für wen durch? „Im System des Nationalstaates“, schreibt Agamben, „erweisen sich die so genannten heiligen und unveräußerlichen Menschenrechte, sobald sie nicht als Rechte eines Staatsbürgers zu handhaben sind, als bar allem Schutze und aller Realität.“ Die entscheidende Frage wäre hier also, „welcher Mensch nun Bürger sei und welcher nicht“, eine „biopolitische“ Frage, die der Nationalsozialismus exemplarisch beantwortet habe: Der Jude ist kein Volksgenosse, also auch kein Staatsbürger, also auch kein Mensch, sondern Homo sacer, dessen „nackte Existenz“ jederzeit in Frage steht. Was sonst nur im Ausnahmefall möglich sei, nämlich, mit Niklas Luhmanns Worten, die rechtlich geregelte Erlaubnis, gegen das Recht zu verstoßen, wird im NS- System zur Regel. Die Menschenwürde ist nicht ausnahmsweise antastbar – wenn etwa, Luhmanns Beispiel, eine Gruppe mit Atomwaffen bestückter Terroristen die Bevölkerung bedrohen und man foltern muss, um „das Leben vieler Menschen zu retten“ –, sondern jeder Mensch kann jederzeit „entwürdigt“ werden, um eine Existenz zu führen, die ohne Würde und Rechte eines Menschen auskommen muss. Agambens Provokation liegt in dieser Generalisierung. Es geht um die Benennung jener biopolitischen Bedingungen, die den Menschen seiner Menschlichkeit berauben. „Jedem von uns“, wird Primo Levi zitiert, „kann der Prozess gemacht werden, […] ohne auch nur zu wissen, warum.“ Jeder ein Josef K. Das KZ sei das Symbol der „Ausweitung eines Ausnahmezustandes“ auf die „gesamte Zivilbevölkerung“. Nicht die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung ist der Zweck der Ausnahmemaßnahmen, sondern im Gegenteil die Institutionalisierung des Ausschlusses des Anderen im Lager.

„Homo sacer“ beschreibt die Transformation des temporalen Zustandes der Ausnahme in einen Ort, an dem dieser Zustand dauerhaft herrschen kann; die Gesellschaft wird räumlich gespalten in Zonen der Normalität und Zonen der Ausnahme. „Homo sacer II“ legt nun den Schwerpunkt auf die Bewohner dieser Räume: den Menschen außerhalb des Lagers, der nur ist, was er ist, insofern er Täter, „Muselmann“ oder „Zeuge“ sein könnte. Zugespitzt könnte man sagen, dass inmitten des Konzentrationslagers überhaupt keine Menschen anzutreffen sind; denn der SS-Mann funktioniert wie eine Maschine, Befehle setzt er nach einem konditionierten Programm gehorsam in Handlungen um. Über den Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, heißt es, „dass er kaum mehr als eine Maschine war, die nur dann funktionierte, wenn die Vorgesetzten auf die Befehlsknöpfe drückten“. Gewöhnt an den immer wieder beschworenen Befehlsnotstand, hat der SS-Mann jede Instanz, die über einen solchen moralischen Notstand überhaupt urteilen könnte, eingebüßt, um routiniert zu tun, was jedes menschliche Gewissen verhindern müsste. Er ist zum Unmenschen geworden, der sein Opfer zum Nichtmenschen macht. Der Typus des Muselmanns, den Agamben mit Rekurs auf Augenzeugen beschreibt, erlebt und handelt nur noch im Rahmen seiner reduzierten Vitalfunktionen, gesteuert von Instinkten und Routinen. Bruno Bettelheim nennt ihn eine „monströse biologische Maschine“. Agamben bezeichnet ihn als Nichtmenschen, dessen „nacktes Leben“ nichts mehr aufweist, was als Menschenwürde zu schützen wäre. Es gebe einen Punkt, „an dem der Mensch, obwohl er dem Anschein nach Mensch bleibt, aufhört, Mensch zu sein. Dieser Punkt ist der Muselmann, und das Lager ist sein Ort schlechthin.“

Im KZ treffen wir also auf Unmenschen und Nichtmenschen. Unser Wissen davon setzt allerdings Überlebende voraus, die davon berichten: Zeugen. Aber welcher Mensch könnte vom Unmenschlichen Zeugnis ablegen? Die SS-Leute, die „Kadavergehorsam“ übten und „gehorchten wie Leichen“, hätten sich „fast ausnahmslos als unfähig erwiesen, Zeugnis abzulegen“. Auch der Muselmann vermag nicht „im Namen von Wahrheit und Gerechtigkeit“ Zeugnis abzulegen, denn er hatte bereits vor seinem Tod, so Levi, „die Fähigkeit der Beobachtung, der Erinnerung, des Abwägens und des Ausdrucks verloren“. Die Shoah sei daher ein „Ereignis ohne Zeugen: es ist ebenso unmöglich, von innen her Zeugnis abzulegen wie von außen her“. Der Muselmann stehe für die „absolute Unmöglichkeit, Zeugnis abzulegen“. Diese Unmöglichkeit werde nun aber gleichsam umgangen vom „Überlebenden“, der nicht „von der Gaskammer oder von Auschwitz Zeugnis ablegt, sondern für den Muselmann“. Dieses Zeugnis könne „nicht geleugnet werden“. Daher sei Auschwitz als „das, von dem Zeugnis abzulegen nicht möglich ist“, dennoch „absolut und unwiderleglich bewiesen“. Wen kümmert’s, wer spricht, hatte Foucault einst gefragt und das Autorsubjekt als diskursive Funktion bestimmt. Diese Frage bekommt bei Agamben eine hochpathetische Antwort: Es ist der Zeuge, der für den Muselmann spricht. Ohne sein Zeugnis bliebe von Auschwitz nichts. Die wahren Zeugen der Unmenschlichkeit bleiben jedoch so stumm wie Betonstelen. Oder vielleicht so stumm wie jene, über die fürsorglich ein Bombenteppich gelegt wurde, um ihre Menschenwürde zu retten. Was von Auschwitz bleibt, ist auch heute die Frage nach der Möglichkeit, Zeugnis abzulegen.

Giorgio Agamben: „Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Homo sacer II“. Aus dem Italienischen von Stefan Monhardt. edition suhrkamp, Frankfurt/Main 2003, 160 Seiten, 9 €