Barbarische Anpasser

DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH

Was ist das nur? Offenbar lediglich eine heroische Marsch-erleichterung in harten Zeiten

Das Editorial regt die Fantasie an. Vorm inneren Auge erscheint eine Berliner Altbauwohnung, leise knarrt das Parkett, und der Herausgeber hebt an: „Wir müssen entschiedener werden. Der Gegner lebt, trotz 89. ‚Neoliberal‘ ist ein Schimpfwort geworden. Eine neue, lunatische Linke entsteht. Junge, idealistische Menschen, verführt von fromm gewordenen Spekulanten.“ Zustimmendes Murmeln unter den Autoren. „Wie können wir die Attac-Kinder zurückgewinnen?“, fragt Thomas E. Schmidt, „und wie die Markenführerschaft von Naomi Klein bei den 18- bis 28-Jährigen brechen?“, rufen Norbert Bolz und Harry Nutt.

„Wir müssen begründen, dass der Kapitalismus nicht gezähmt werden muss, sondern an sich selbst ein ethisches Prinzip ist“, grummelt Richard Herzinger und blickt lange an die Stuckdecke. In die Pause hinein füllt die verzweifelt sonore Stimme von Mariam Lau den Raum: „Ich kann es nicht mehr sehen, überall wieder Lenin-Büsten, alte Freundinnen tragen Blauhemden, im Theater nichts als Miesmacherei, nirgendwo Flokatiteppiche und schöne Kristallgläser, nur Castorf und Sex und Scheiße, ich möchte nicht, dass meine Kinder in dieser Welt so …“ „Shoppen und Ficken“, ergänzt ihr Gatte Jörg, und der Vize-Herausgeber fasst zusammen: „Es geht um Freiheit. Die Zeit für bequeme Positionen – weder Kapitalismus noch Barbarei – ist abgelaufen.“ Und so entstand das Sonderheft „Kapitalismus oder Barbarei“ des Merkur. Falls Sie es vergessen haben: „Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken“. Alles großgeschrieben: Deutsch, Europa, Denken.

Das Heft glänzt von mattschwarzer Entschlossenheit. Die Menschen müssen sich endlich von der Erinnerung an „ineffiziente Utopien“ wie „Geborgenheit, Wärme der Kleingemeinschaften, Liebe, Gemeinschaftsgeist, Heimatgefühl“ emanzipieren, postuliert der gefeuerte Banker Thomas Fischer. Man darf die Macht in der Gesellschaft nicht den Menschen geben, das ist gefährlich, deklamiert Rudolf Burger, am Markt, der „ökonomischen Justitia“, habe „jede Idee von Gerechtigkeit ihr Maß“. Vor dem und jenseits des Kapitalismus lungere die Gewalt, assoziiert Michael Rutschky locker, entlang nacherzählter Gräuel aus Mafia-Filmen und neu kapitalisierten Ostländern; all der „Jugendprotest“ sei im Grunde wenig mehr als die Sehnsucht nach dem starken Patron Staat, geboren aus schwächlichen Angestelltenseelen. Ach, vergessen 200 Jahre Geschichte, all die Klassenkämpfe um ein wenig Recht und Sicherheit bis hin zum Artikel 21 des Grundgesetzes. Was aber bleibt, stiftet der Markt – vom Kapital und seinen Verwertungskriegen ist merkwürdig wenig die Rede in all den Elogen.

Überhaupt fehlt einiges in diesen Texten über „Kapitalismus und Barbarei“: Arbeitslosigkeit etwa als Form der Verelendung kommt nicht vor, dafür gleich zwei Abhandlungen über das Leiden des Spekulanten an der Entfremdung. Weiter fehlen: Naturzerstörung, Migranten, Rohstoffkriege, das Klima, Gen-Agrikultur, der Zustand Argentiniens nach 30 Jahren IWF-Diktatur, Fox-TV mit seiner Polizeistaatsverheißung, all the lonely people und ihr Souveränitätsverlust. Aber es geht ja ums Grundsätzliche, ums Ökonomische also. Dafür bestellte die Redaktion Carl Christian von Weizsäcker – unvergessen noch sein Satz, dass, wer mit Mindestlöhnen anfange, beim Gulag lande.

Auch hier wartet er mit knackiger „Begriffsarbeit“ auf: Freiheit sei die Ausweitung von Konsumoptionen – im Kapitalismus komme „der Strom … jederzeit aus der Steckdose, solange man ihn bezahlen kann“; von „Kolonisierung der Lebenswelten“ zu reden sei Unfug, weil die Weltbevölkerung es so wolle; „Mehrheit ist nicht Wahrheit“, deshalb hätten wir ja die mediale Öffentlichkeit als demokratisches Korrektiv; China und Indien zeigten, dass nur der Kapitalismus den Armen helfe. Dass die in Anspruch genommenen Länder, wie einst die „Tiger“, gerade nicht die Politik an den Freihandel delegierten, spielt keine Rolle – die Wahrheit von Modellen ist nicht an Empirie gebunden, und „hier ist nicht der Ort, sich mit diesen (globalisierungskritischen) Thesen auseinander zu setzen“.

Nein, hier ist der Ort, an dem Rainer Hank, nachdem er die historisch überholte Gebetsmühle von den „komparativen Kostenvorteilen“ gedreht hat, die wachsende Ungleichheit als „gerechtigkeitskompatibel“ verklärt, weil der Sozialstaat und der Tarifvertrag kapitalismusinkompatibel gewesen seien. Leb wohl, Smith’sche Idee vom „Reichtum der Nationen“ – der Wahnsinn hat Methode und der Rest ist schnell erzählt: Von den Ökonomen in Schwung gebracht, schaffen die Geisteswissenschaftler die „romantische“ Trennung von Bourgeois und Citoyen ab, werfen die demokratischen Wirtschaftstheorien von Mill bis Keynes auf den Müll der Geschichte, halbieren Adam Smith, bringen uns, auf der Suche nach einem Leitbild für die dynamischeren unter den Merkur-Lesern, aufs einfühlsamste das amerikanische Kapitalismusmärchen „Atlas Shrugged“ von Ayn Rand nahe, fordern die volle Marktfreiheit für Biotechnik, Theater, Oper, wo „verwahrloste“, ungewaschene, radikale, selbstquälerische 68er-Typen wie Beethoven, denen es nicht reicht, „schöne Musik zu schreiben und bezahlt zu werden“, für Mariam Lau ohnehin irgendwie fehl am Platz sind.

Ach, vergessen 200 Jahre Geschichte, all die Klassenkämpfe um ein wenig Recht und Sicherheit

Was ist das nur? Ein Aufstand des bürgerlichen Geistes? Eher eine heroische Marscherleichterung in harten Zeiten. Nichts von der Verzweiflung Max Webers über das Stahlgehäuse, nichts vom Erschrecken Gehlens, dass moralgesteuertes Handeln nur noch in der Nische oder als Verbrechen möglich sei, nichts von der Trauer, die einst den Wissenschaftsbürger Markl im Merkur packte, als er die Zerstörung der Natur beklagte. Alles gelaufen, ist der Tenor dieser Sondermeldung, was bleibt, ist Anpassung an das, was ohnehin geschieht. „Lieber nicht“, ruft Jürgen Mackert aus, kaum dass ihn am Ende einer Durchsicht globalisierungskritischer Untersuchungen die Ahnung packt, dass der „Imperialismus der Vereinigten Staaten“ vielleicht doch „die höchste Stufe des globalisierten Kapitalismus“ sein könnte. Lieber nicht hinsehen, auch wenn Naomi Klein Recht hat (Norbert Bolz). Mensch werde immanent!

So erinnert ans (alt)europäische Denken nur Edzard Reuters vorsichtige Empfehlung der „Prophezeiungen von Marx und Engels über den vorgegebenen Weg eines ungezügelten kapitalistischen Systems“ und sein wie Hans-Peter Müllers Bekenntnis zu dessen europäischer Variante und zum Primat der Politik. Diese bescheidene Verpflichtung, mit dem Engel der Geschichte kleine Breschen zu schlagen, könnte einer „deutschen Zeitschrift für europäisches Denken“ anstehen. Aber Redaktion und Autoren dachten wohl: Der Markt wird eng, die Feuilletons schrumpfen, insgesamt wird es langsam ungemütlich, vieles wird bald nicht mehr gebraucht. Kapitalistischer Realismus ist angesagt, und deshalb wird für die Gebildeten unter seinen Sängern immer noch ein Plätzchen da sein. Und darum möge der Verleger zumindest den Untertitel „Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken“ an ein Konsortium Attac nahe stehender Jungdenker verkaufen, um die Defizite zu decken und weitere Sonderhefte über das Glück und die Gerechtigkeit des Kapitalismus bezahlbar zu machen.