Mit der Kälte des Vermittlers

Christian Petzolds neuer Film „Wolfsburg“ erzählt eine Geschichte von Schuld und Sühne, ohne dabei den Blick vom Alltag abzuwenden. „Die Filme sollten nicht moralische Positionen untermalen oder propagieren“, sagt der Regisseur, sondern „die Menschen bei der moralischen Arbeit betrachten“

von CLAUDIA LENSSEN

Von Wolfsburg sieht man nur Fabriktürme, die die flache Landschaft überragen. Man sieht Landstraßen zwischen Feldern, weite Parkflächen an einem Einkaufszentrum, einen gläsernen Verkaufspavillon voll glanzpolierter Fetisch-Autos, Schrottplätze. Nicht die Konzernzentrale, der Produktionsstandort, die Welt von Hartz und Co. sind Schauplatz, sondern die Randzonen, dort, wo die „Generation Golf“ ihre Dienstleisterjobs hinter sich bringt.

„Wolfsburg“, Christian Petzolds neuer Film, konzentriert sich auf ein paar Orte, die deutsche Alltagssphäre sind. Man kann die Luft zwischen Feldern und Gewerbezonen beinahe riechen, hat die Mischung aus Vogelgezwitscher und Straßengeräuschen im Ohr. Die Gegend ist Christian Petzold vertraut, seit er dort dem Dokumentarfilmer Hartmut Bitomsky beim Drehen assistiert hat. Die kalte Funktionalität modernen Stadtinventars hat er zusammen mit Harun Farocki für dessen Filmessays untersucht. In seinen eigenen Filmen ist die kalte Randzone der Ort, an dem sich Tragödien ereignen – ohne Identifikationshysterie, wie sie die kurzlebige Fernsehdramaturgie vorschreibt.

Im falschen Leben

In „Die innere Sicherheit“ treibt es die flüchtende Exterroristenfamilie (Julia Hummer, Barbara Auermann, Richie Müller) in dieser bedrohlich offenen Zone umher, in „Toter Mann“ lockt Nina Hoss das Objekt ihrer Rache an die Peripherie, um den Mann mit seiner Schuld zu konfrontieren. Auch „Wolfsburg“ erzählt eine Schuldgeschichte. Im falschen Leben an diesen langweilig unwirtlichen Orten geschieht etwas, das die Filmfiguren dazu zwingt, zu handeln, Gefühle zu zeigen, Fehler zu machen.

Benno Fürmann als Autoverkäufer Philipp Wagner streitet auf der Fahrt in seinem RO 80 mit seiner Frau, die als kühle Stimme aus der Freisprechanlage präsent ist. Sie wirft ihm vor, dass er sie nicht wahrnimmt, zu Hause einfach übersieht – die Ehe scheint am Ende. Fürmann/Philipp bekommt einen Wutanfall und schleudert mit derselben Kraft, mit der er beim Schalten und Lenken fuhrwerkt, das Mobiltelefon aus der Halterung. Als er sich danach bückt, hört man einen trockenen Knall. Man sieht, wie er erschrocken anhält, zurückschaut, einen verletzten Jungen am Straßenrand sieht, den er überfahren hat, einen Moment zögert und dann in Panik davonfährt.

Von diesem Moment an ist nichts mehr wie zuvor, der smarte Prinz verliert den Boden unter den Füßen, obwohl er alles daran setzt, die Fahrerflucht und seine unterlassene Hilfe zu vertuschen. Sein Schuldgefühl treibt ihn dazu, die Mutter des sterbenden Kindes im Krankenhaus aufzusuchen, ihre Nähe zu suchen, ihr seine Hilfe und Zuwendung anzubieten.

Nina Hoss spielt diese Frau mit der gleichen Unnahbarkeit und Sprödigkeit wie in „Toter Mann“. Sie trauert, sie wird krank, das Gefühl, ihr Kind vernachlässigt zu haben und Schuld an seinem Tod zu haben, kommt wieder an die Oberfläche und kehrt sich gegen sie selbst.

Im vorigen Film, den sie mit Christian Petzold drehte, wurde mit jeder Szene deutlicher, dass ihre Filmfigur ein Spiel inszeniert, die Initiative ergreift, ein Geheimnis zurückhält, das erst am Ende entschlüsselt wird. Jetzt ist sie als Laura mit dunklem Perückenhaar eine Kontrastfigur zu Benno Fürmanns Philipp, eine zwar sorgfältig inszenierte, doch eher unscheinbare Alltagserscheinung, eine in ihrem Verlustschmerz schwer zugängliche Frau.

Diese Laura arbeitet in einem riesigen Einkaufszentrum, füllt tiefgefrorene Hummer in Kühltruhen, achtet auf die Videokameras, die sie im Visier haben, versucht dennoch, heimlich ein paar Extras für sich und ihre Freundin Vera (Astrid Meyerfeldt) abzuzweigen. Laura fährt Rad und wohnt in einem Wohnzentrum aus den Sechzigern – die Aufstiegschance, die ihr ihr Chef in Aussicht stellt, wenn sie seiner Annäherung nachgibt, nennt sich „Regalpflege“. Aber Laura verweigert sich diesem Tauschgeschäft und beginnt stattdessen, nach den Spuren des Mannes zu suchen, der ihr Kind auf dem Gewissen hat. Auf den Schrottplätzen von Wolfsburg forscht sie nach eingetauschten Kotflügeln, die vom Unfallauto stammen könnten. Einziger Hinweis sind die letzten Worte ihres Sohnes, der das Fahrzeug für einen roten Ford hielt.

Philipp wird etwas los im Lauf des Films: die Beziehung zu seiner schneidend kalten Frau (Antje Westermann), die ihn aus ihrem besten Stück, einer mit Stahl- und Ledermöbeln designten Villa aus Wolfsburgs Nazivergangheit, hinauswirft. Sein Karriereende im Autohaus seines Schwagers (Stephan Kampwirth) folgt unmittelbar. Phillips Heimlichkeiten provozieren seine Umgebung, man unterstellt ihm Seitensprünge und radiert den Unangepassten aus dem perfekten Bild. Laura wiederum öffnet sich vorsichtig, lässt sich zum Essen einladen, auf nächtliche Autotouren mitnehmen, erzählt von sich, scheint an weichere Seiten anknüpfen zu können, die sie vor ihren Verletzungen auslebte.

Zwei miteinander Verstrickte begegnen sich. Beide tragen Masken, um ihre Geheimnisse zu verbergen. Tat und Täter sind in „Wolfsburg“ von Anfang an klar. Einen Katastrophenfilm, sagt Christian Petzold im Interview, wollte er entwickeln, der nicht das Schema karikaturhafter Normalität im Vorstadtleben breit vorführt und darauf dann die Katastrophe als kathartischen Schock folgen lässt. Solche Standarddramaturgien interessieren ihn nicht. Es geht ihm vielmehr um die Bruchlinien, mit denen Menschen nach solch einem schuldhaften Ereignis weiterleben. Das Drehbuch, das er zusammen mit Harun Farocki entwickelt hat, opfert das Kind von Laura, um die Begegnung des neuen Paars Philipp und Laura zu erzählen.

Wolfsburg als der Ort der Demütigung und der Schuld für den Mann, den Benno Fürmann spielt – wenn er die Stadt verlassen könnte, weil sie ihn loswerden will, hält er am Grab des kleinen Jungen an, bringt es in Ordnung, bleibt wie ein im Gebet Verharrender davor stehen. Benno Fürmann bewegt sich in diesem Film wie ein Mann, dem der Anzug immer noch nur ein Kostüm ist, der lieber zupacken würde als antrainierte Verkaufsgespräche zu führen. Selten sah man ihn so konzentriert auf die verschlossene Miene eines Mannes mit bösem Geheimnis. Am Grab steht er wie einer, der in einem Film von John Ford Abschied nimmt.

Nina Hoss hat den Gang einer sich ihrer Ausstrahlung bewussten Schauspielerin, die weiß, wie sie einen Raum zu durchqueren hat, um zu zeigen, dass sie sich sicher fühlt. Ihre verschlossen blickende Laura, der verzweifelte Zug um ihren Mund, die kleinen Gesten, in die sie die innere Loslösung vom Schmerz legt, sind präzise erarbeitete Momente, die sie zum Dreh mitbrachte, erzählt Christian Petzold. Zur Vorbereitung sah sich das Team korrespondierende Filme an und machte sich ein Bild von den Frustrationen und Unsicherheiten der Generation, die unter Kohl aufwuchs und über ererbten, nicht erarbeiteten Besitz verfügt.

Schauspieler, die das Zeug zum Starkino mitbringen, ein Inszenierungsstil, der sich auf reale Orte einlässt und dabei dennoch die dekorativen Warensignale unserer Wirklichkeit aus den Bildern ausschließt, eine stille, widerstandsfähige Orientierung am Kino von Ozu, Godard und fünfzig anderen Regisseuren – wie „Die innere Sicherheit“ und „Toter Mann“ ist auch dieser kleine, ursprünglich nur fürs Fernsehen produzierte Film eine Synthese von Ideenkino und physischem Kino.

Tragödie und Gegenwart

„Moral ist immer das, worum es im Kino geht, aber die Filme selbst sollten nicht moralische Positionen untermalen und propagieren, sondern darstellen, so wie sie in den Menschen existiert und in den Systemen, denen sie folgen“, erklärt Christian Petzold. Die Haltung des Erzählers im Film interessiert ihn, wenn man die Frage der Moral stellt: „Ich versuche immer, mit Sympathie und Anteilnahme eine Position einzunehmen, in der ich Menschen bei der moralischen Arbeit betrachten kann. Aber nicht der Erzähler ist der Moralmensch, er hat eher die Kälte des Vermittlers aus den ‚Wahlverwandtschaften‘, der die Paare zusammenbringt.“

Zwischen den letzten drei Filmen gibt es schon deshalb innere Verbindungen, weil die Produktionsbedingungen zwangsweise ein Projekt wie eine Folie über das andere legten. „Wolfsburg“ ist das älteste, das aber vom ZDF zurückgestellt wurde, weil Max Färberböck parallel an einem Stoff zum Thema Fahrerflucht arbeitete. So entstand zuerst das Buch zu „Toter Mann“, das jedoch erst nach „Die innere Sicherheit“ realisiert wurde.

Alle drei Filme bewegen sich unentrinnbar auf den Moment der Sühne für begangene Schuld zu. In allen ist der Tod keine Lösung für die verletzten Frauen. Julia Hummer, die Tochter des Terroristenpaars in „Die innere Sicherheit“, entkommt am Ende der Geschichte ihrer Eltern, indem sie die von den Verfolgungsbehörden inszenierte Autoexplosion überlebt. In „Toter Mann“ verhindert der Geliebte den tödlichen Racheakt von Nina Hoss' Heldin im erlösenden Finale. In „Wolfsburg“ durchschaut Nina Hoss am Ende das Versteckspiel von Philipp und rächt ihr Kind – mit einer letzten erlösenden Wende. Wer sind die Götter, die in Christian Petzolds Filmen die Gewichte von Schuld und Sühne verteilen? Er sucht in den griechischen Tragödien nach dem Schlüssel, mit dem sich Geschichten über unsere Gegenwart erzählen lassen.

„Wolfsburg“. Regie: Christian Petzold. Mit Benno Fürmann, Nina Hoss u. a. Deutschland 2003, 93 Min.