Wenn die Pflicht getan ist

Im Archivkeller der Befindlichkeiten: Einmal im Jahr, jeweils am 27. September, führte Christa Wolf Tagebuch über ihr Leben. Nun erscheint „Ein Tag im Jahr“: Das Buch ist eine Art Jahreschronik der DDR, aber auch ein Zeugnis der inneren Entkrampfung

Lesenswert sind die Stellen, in denen sie lakonisch ihr Scheitern beschreibt

von SUSANNE MESSMER

Es fällt schwer, sich heute noch so ein Lebensgefühl vorzustellen. Kaum nachvollziehbar, dass man beispielsweise übers Land fährt und sich für jeden Mangel, den man dort entdeckt, persönlich verantwortlich fühlt. Sich mit jedem Handgriff als Teil einer Gesellschaft begreift, die man mitzugestalten und zu verbessern verpflichtet ist.

Diese Hochspannung, diese durchgedrehte Überidentifikation mit der DDR, wie sie Christa Wolf in den Sechzigerjahren empfand, mutet wie ein exotischer Albtraum an. Ihn aus allernächster Nähe beschrieben zu bekommen ist schon Grund genug, sich Christa Wolfs neues, 600 Seiten dickes Buch vorzuknüpfen, das zu einer Zeit einsetzt, als sie in einem Waggonwerk in Halle arbeitete und sich dem sozialistischen Realismus gemäß zur Aufgabe machte, „das Leben von Menschen groß [zu] machen, die zu kleinen Schritten verurteilt scheinen“.

„Ein Tag im Jahr“ ist ein erstaunliches Archiv der Befindlichkeiten. Von 1960 bis 2000 hat Christa Wolf über jeden 27. September Tagebuch geführt – ursprünglich als Auftragsarbeit für die Moskauer Zeitschrift Iswestija, weshalb sie beim ersten Tag, dem 27. September 1960, nur kontrollierte Einblicke zulässt und dann weiter für die Schublade schreibt, wie Christa Wolf mehrfach betont.

Da ein Tagebuch aber kein richtiges Tagebuch wäre, wenn es nur eine einzige Wahrheit beschriebe, weil Tagebücher aus der Tradition der christlichen Selbsterforschung und -prüfung entstanden sind, darum ist Christa Wolfs Tagebuch nicht nur ein Buch über ihre Liebe zur DDR. Es ist auch ein Buch über die Zweifel, den von ihr oft beschriebenen schmerzhaften Prozess der Ablösung – vor allem aber, und das ist das Neue an diesem Tagebuch, ein Zeugnis der Entkrampfung, die so eine intime Beichte nun mal mit sich bringt und die ihr oft besser gelingt als erwartet.

Wenn man liest, wie Christa Wolf an einem System litt, das nichts von dem einlöste, was sie sich von ihm erhoffte, sich aber in der Beschreibung dieses Leidens auch etwas vom Leib schrieb, dann kann man eigentlich nur erleichtert sein, dass Christa Wolf dieses Buch nicht schon vor zehn Jahren veröffentlicht hat. Wie beim Erscheinen von „Was bleibt“ Anfang der Neunzigerjahre, in dem sie den Terror der Überwachung durch die Stasi beschreibt, hätten ihr westliche Kritiker vorgeworfen, sich als Verletzte zu stilisieren – sich mit der subjektiven Authentizität, die sie in den Siebzigern zu ihrem Literaturkonzept erhoben hat, reinzuwaschen. Gut, dass die Zeit dieses Literaturstreits vorbei ist. Und gut, dass jene Ostalgie, die nun auch den Westen erreicht hat, auch eine neue Neugierde zulässt.

Christa Wolfs Tagebuch hat nicht nur den seltsamen Nebeneffekt, dass in ihm 40 Jahre auf 40 Tage zusammenschnurren. Auch verlieren viele historische Ereignisse – weil sie nicht im September, sondern im März oder im Dezember stattfanden – angenehm an Gewicht. All die Stellen über die große Politik, den Prager Frühling 1968, die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976, den Fall der Mauer, sie lesen sich eher langweilig. Sehr viel mehr Aufschluss gibt „Ein Tag im Jahr“ an all jenen Stellen, wo es um den Alltag geht: die Gespräche der Familie beim Frühstück, Belanglosigkeiten wie die Lust an einem heißen Bad, einem guten Essen, die Rituale einer beeindruckend gelungenen Ehe.

In solchen Momenten gelingt es Christa Wolf, aus ihrem Lebensthema, dem Leiden an der Gesellschaft, auszubrechen – ein Befreiungsschlag, den man zum Beispiel sehr schön nachlesen kann, wo es um ihr Verhältnis zu den Kindern und Enkeln geht. Diese Sorge, dass die Kinder mit der Dressur in der DDR zerstört werden könnten, die Enkel vom neuen Konkurrenzkampf im Westen, das ist das eine. Das andere sind immer wieder Augenblicke, in denen Christa Wolf die Last, die Welt warnen (Kassandra) oder bewahren zu müssen (Medea), abzustreifen vermag. Einmal, irgendwann in den Siebzigern, fragt sie etwa ihre Tochter Tinka, „ob sie eigentlich nie das Bedürfnis nach ‚gesellschaftlicher Tätigkeit‘ gehabt habe“. Als diese spontan verneint, bricht Christa Wolf in Gelächter aus. Ein andermal, dreißig Jahre später, zitiert sie vergnügt einen Schulaufsatz ihres zehnjährigen Enkels Anton. Darin beschreibt er einen Traum, in dem er auf dem Gang zur Schule den Pyjama anbehält und sich im Klassenraum wieder ins Bett legt.

Westliche Kritiker, die Christa Wolf immer wieder dafür schimpfen, dass sie einfach nicht von ihrer protestantischen Pflichterfüllung lassen kann, haben sich immer wieder in die Rolle des kolonisierenden Besserwissers katapultiert. Mag sein, dass man die nicht weniger blöde Rolle des kolonisierenden Schulterklopfers annimmt, wenn man sich erleichtert über die Entspannung der Christa Wolf gibt. Trotzdem machen die Stellen in ihrem Tagebuch am meisten Spaß, in denen sie ihr vermeintliches Scheitern mit lakonischem Witz kommentiert.

Ganz am Ende gibt es so eine Stelle: Bei Sabine Christiansen behauptet eines Abends ein Soziologe, „daß die Ostdeutschen einfach faul sind“. Christa Wolf erzählt belustigt von den hilflosen Verteidigungsversuchen Hans Modrows und Wolfgang Thierses und wie sie dann den Fernseher abschaltet, ins Bett geht und lieber einen Krimi liest. Diese lässige Christa Wolf ist weit interessanter als jene Leidensfrau, als die sie so oft beschrieben worden ist.

Christa Wolf: „Ein Tag im Jahr. 1960–2000“. Verlag Luchterhand, München 2003, 640 S., 25 €