Warten auf Wiglaf

taz-Genossenschaftsversammlung ist: Diskussion, Geschäftsbericht, Vorstellung der Blattreform, Film zur „Nullnummer“, Genossenumfrage. Thomas Krämer harrt geduldig aus. Bis Wiglaf Droste kommt

aus Berlin KIRSTEN KÜPPERS

Thomas Krämer sitzt auf dem Stuhl und wartet. Unruhig reckt er den Kopf nach vorn, seine Lederjacke zieht er nicht aus, so gespannt ist er. Es ist eine Person, auf die der Genosse Krämer wartet. Ein ganz besonderer Mensch, der noch kommt. Den will Krämer sehen, den will er erleben. Deswegen ist er überhaupt hier.

Krämer verfolgt die Leute, die vorne aufs Podium treten und in die Mikrofone reden. Pfeildiagramme werden an die Wand geworfen, Dias gezeigt. Thomas Krämer sitzt da mit den anderen, aus Wanne-Eickel, Rosenheim und Bremen sind sie gekommen. Er blickt nach vorn, folgt dem Programm. Er wartet.

Und es ist ja nicht so, dass ihm das alles gleichgültig wäre. Es ist die jährliche taz-Genossenschaftsversammlung, die hier in einem Saal der Kulturbrauerei in Berlin-Prenzlauer Berg passiert. Der 51-jährige Thomas Krämer ist selbst Genossenschaftler der taz. Einer der ersten Stunde sogar. Gleich 1992 hat er seinen ersten Anteil gezeichnet. Schon immer ist die taz seine Zeitung gewesen. Ende der 70er-Jahre in Tübingen in der Studentengemeinde. In Minden, wo er dann als Chemiker bei einer Versuchsanstalt für Metallanalytik gearbeitet hat, und jetzt in Berlin, wo er mit seiner Frau und zwei Söhnen wohnt. Jeden Tag liest Thomas Krämer die taz. Er hat Geld investiert, natürlich findet er interessant, was da vorn auf dem Podium kommt. „Inhalte sind wichtig – das ist klar“, erklärt Krämer.

Also verfolgt er die Diskussion zum Thema „Medienberichterstattung nach dem 11. September und im Irakkrieg“, er hört zu, wie sich der Experte für Verschwörungstheorien, Matthias Bröckers, und Ullrich Fichtner, ein Reporter vom Spiegel, auf dem Podium beschimpfen, wie taz-Korrespondent Andreas Zumach beharrt, „Ich will die Wahrheit wissen“, und wie auch die amerikanische Journalistin Melinda Crane nickt, als taz-Redakteur Bernd Pickert resümiert, dass „Denkverbote verboten sind“. „Natürlich ist die Politik bei so einer Genossenschaftsversammlung wichtig“, wiederholt Genosse Thomas Krämer. „Gerade bei der taz. Das erwarte ich einfach von einer linken Zeitung.“

Aber an diesem speziellen Tag wartet Thomas Krämer eben auch noch auf ein anderes Ereignis. Auf eine ganz bestimmte Person. Deswegen bleibt er da, guckt sich auch all das andere an. Etwa den schönen Film über die Produktion der ersten Ausgabe der taz. Am 27. September 1978 ist diese Nullnummer erschienen. Verwackelte Archivbilder zeigen Männer und Frauen mit langen Haaren, die viele Zigaretten rauchen und Sätze sagen wie: „Die Bürgerinitiativen sollen ihre Artikel ruhig selber schreiben.“ Es sieht alles ziemlich chaotisch aus. Krämer guckt auf die Bilder. Er lacht. Er haut sich sogar mit der Hand auf die Knie.

Und in der Pause, als alle draußen auf dem Hof der Kulturbrauerei stehen und Kuchen essen, da sieht Thomas Krämer dann auch, wie sie älter geworden sind. Er selbst und die anderen. „Wir haben Falten bekommen. Wir sind jetzt alle irgendwie etabliert und gesetzt.“ Thomas Krämer stellt seinen Kuchenteller ab. Er holt sich einen neuen Kaffee.

Denn jetzt kommt das Schlimmste vom Tag. Das, was man durchstehen muss. „Die Statistik“, stöhnt Thomas Krämer. Die sei immer so langweilig. Unruhig ruckelt er auf seinem Stuhl. Dabei verkündet taz-Geschäftsführer Kalle Ruch vorne auf dem Podium dieses Jahr endlich einmal gute Nachrichten. „Die taz schreibt schwarze Zahlen“, sagt er. Die Medienkrise trifft sie weniger als andere Zeitungen. Das ist ein Fortschritt. Die neue Entwicklungs-KG soll weiteres Kapital bringen für eine tägliche Regionalausgabe in Nordrhein-Westfalen, erklärt Ruch. Das Geld soll den Fortbestand des Regionalteils taz-nord sichern, den Erfolg von Le Monde diplomatique ausbauen, dazu das taz-Angebot im Internet verstetigen.

Thomas Krämer kennt das alles schon. Er hat bereits im Sommer in die KG investiert. „Eine gute Sache, da mach ich mit!“ Und als der Vorstand aus dem Geschäftsbericht für das Jahr 2002 den Bilanzverlust von 4.958.308,53 Euro vorliest, hält Thomas Krämer großzügig seine Abstimmungskarte hoch. Der Verlust ist akzeptiert. „Das sind wir alten Genossen doch gewohnt.“ Draußen stürmt derweil Chefredakteur Peter Unfried über den Hof. Er ruft, dass die taz an den Kiosken am Bahnhof Zoo ausverkauft ist – die Ausgabe der feindlichen Übernahme.

Drinnen gibt es noch eine Abstimmung. Es geht um die Blattreform, die gerade entwickelt wird und die der taz neue Gesellschaftsseiten bringen soll. Chefredakteurin Bascha Mika fragt die Genossen, ob sie in Zukunft auf ein Fernsehprogramm verzichten könnten. Thomas Krämer stimmt mit Nein, obwohl er gar keinen Fernseher hat. Die übrigen Genossen sind anderer Meinung. Zugunsten einer umfassenden Medienberichterstattung könnte ein TV-Programm fehlen. So das Ergebnis. Thomas Krämer packt seine Abstimmungskarte weg: „Na ja.“

Und irgendwann hat auch Bernd Blöbaum von der Universität Münster die Ergebnisse seiner Genossenschafts- und Leserbefragung vorgetragen. Er hat referiert, dass 90 Prozent der Leser auch in Zukunft keine Artikel über Boris Becker und seine Frauen in der taz lesen wollen. Genosse Thomas Krämer lehnt sich zurück. Entspannung holt ihn ein. Jetzt gibt es nur noch das Buffet. Dann geht es los. Endlich.

Dann kommt endlich der Mann, auf den Thomas Krämer schon den ganzen Tag wartet. Er kommt in einem schwarzen Anzug und mit ein paar anderen. Es ist Wiglaf Droste. Mit seinem Spardosen-Terzett macht er Musik. Und Thomas Krämer ist wirklich sehr froh, dass die Versammlung tatsächlich noch diese Wendung genommen hat.