Der Hufabdruck des Stars

Mit Menschen, die aus dem Sattel geworfen werden, hat das amerikanische Kino immer wieder den Zustand der Nation reflektiert. Gary Ross’ Spielfilm „Seabiscuit“ aber möchte die symbolische Ordnung von Mann und Pferd wiederherstellen: Der Freiheitswille geht vom Cowboy auf den Rennjockey über

von ANKE LEWEKE

Was wäre Lucky Luke ohne den frech gescheckten Jolly Jumper, Winnetou ohne den nobel-tapferen Rih, ein Western ohne einen Helden, der am Ende auf dem Rücken seines Pferdes in Richtung Sonnenuntergang entschwindet? Und wo, wenn nicht in der Satteltasche eines Cowboys, findet die amerikanische Mythologie ihren adäquaten Platz?

Auf der diesjährigen Kunstbiennale in Venedig sind in der Ausstellung „Verzögerungen und Revolutionen“ einige Arbeiten des Fotokünstlers Richard Prince großflächig gehängt. Man sieht Reiter über die Prärie jagen, wilde, sich aufbäumende Pferde, große Cowboyhüte in extremer Nahaufnahme – gerade in ihrer Überholtheit scheinen diese von Marlboro-Reklamen refotografierten Bilder wieder zu sich zu kommen. So sehr steckt die Sehnsucht des Westerners noch in uns allen, dass man sich am liebsten mitten im Raum niederlassen, ein Feuerchen entfachen und dampfenden Kaffee aus der Blechtasse schlürfen würde.

Auch in Gary Ross' Film „Seabiscuit“ sieht man einen Mann im Westernoutfit am Lagerfeuer sitzen. Doch hat sein Anblick nichts Stolzes mehr. Mit zusammengezogenen Schultern kauert der von Chris Cooper gespielte Excowboy Tom Smith am Boden. Anfang der Dreißigerjahre braucht sein Land Männer wie ihn nicht mehr – längst hat das Zeitalter der Automobilisierung begonnen. Fortan bewegen sich die USA auf Rädern, knattern im Fahrtwind der Industrialisierung, die aber in den repressiven Dreißigerjahren schon ihre erste Ermüdungserscheinungen zeigt. Auch von der Depression erzählt Ross' Film: Authentische Schwarzweißfotografien werden eingeblendet, die ehemalige Farmer zeigen, wie sie heimatlos auf der Straße herumlungern, das verbleibende Hab und Gut in einem Säckchen zusammengeschnürt. Kommentiert wird die Zeitgeschichte in der amerikanischen Originalfassung von dem bekannten Historiker David McCullough.

Eingebettet in diesen historischen Hintergrund kann es sich der Film erlauben, das schöne Märchen des amerikanisches Traums weiterzuspinnen. Auf dem Rücken des legendären Rennpferds Seabiscuit wird die Idee der zweiten Chance, des Underdogs verhandelt, dem dennoch oder gerade deswegen alle Möglichkeiten offen stehen. 1938 identifizierte sich die angeschlagene US-Gesellschaft derart mit Seabiscuit, dass die Siege des Tieres Hitler, Mussolini und sogar Clark Gable aus den Schlagzeilen drängten.

Mit Menschen, die aus dem Sattel geworfen wurden, hat das amerikanische Kino immer wieder den Zustand der Nation reflektiert. In John Fords „Misfits – Nicht gesellschaftsfähig“ von 1960 ist aus dem Cowboy ein Outlaw geworden, der nicht mehr anschlussfähig ist. Die Entfremdung wird im Verhältnis zum Pferd gespiegelt. Längst ist es kein gleichberechtiger Partner mehr, mit dem man einem gemeinsamen Traum entgegen reitet. Es wird gejagt und zu Hundefutter verarbeitet. Wenn sich Robert Redford in „Der elektrische Reiter“ (1978) in einem albernen, mit Glühbirnen versehenen Cowboydress aufs Pferd schwingt, um Reklame für Haferflocken zu machen, erstarrt der Abenteuergedanke – was bleibt, ist die Werbefläche eines Supermarkts. In einem Film wie „Der Pferdeflüsterer“ ist es wiederum das Einverständnis zwischen Mann und Pferd, das sich durchaus wohltuend in die zeitgeistigen Therapiemoden fügt.

Gary Ross stellt hingegen die symbolische Ordnung von Mann und Pferd wieder her, wobei das Pferd Seabiscuit und Tobey Maguire als sein Jockey Red Pollard zwei sich symbiotisch wunderbar ergänzende Outlaws ergeben. Pollard ist seit einer Preisbox-Veranstaltung auf einem Auge blind, Seabiscuit darauf dressiert, der ewige Zweite zu sein. Beide gönnen sich gerne eine Auszeit, Maguire bei einem Schnäpschen, während sich der Gaul genüsslich auf dem Rasen ausstreckt.

Zu Beginn des Films wartet man darauf, ihn eines patriotischen Hintergedankens zu überführen. Doch in seiner schönen und altmodischen Erzählweise gelingt ihm eine Gegenwärtigkeit, die uns die damalige Zeit mit den Augen der Beteiligten sehen lässt. Man freut sich an Chris Coopers Reaktivierung als Cowboy und Seabiscuits Trainer. Flankiert wird er von Jeff Bridges in der Rolle des Bilderbuchkapitalisten, dem das Pferd gehört. Im fröhlichen Übermut verteilt er Autogramme mit dem Hufabdruck seines Stars.

Wenn im entscheidenden Schlusslauf die Kamera in die Zielgerade einfährt, dort lange verharrt, um den Sieger in Empfang zu nehmen, dann wird die Leinwand endgültig zu einer Projektionsfläche, auf der sich jeder seinen eigenen kleinen Traum zusammenfantasieren kann.

„Seabiscuit“. Regie: Gary Ross, mit Tobey Maguire, Jeff Bridges, Chris Cooper u. a., USA 2003, 140 Min.