Schutz hinter hohen Mauern

Es ist teuer, aufwändig und gefährlich, ausgerechnet nach Westeuropa zu flüchten. Die Ärmsten der Armen bleiben in der Regel in der Herkunftsregion

Wer Asyl in Westeuropa sucht, will nicht nur Schutz vor unmittelbarer Bedrohung, er will auch nicht zuletzt nach Westeuropa

von CHRISTIAN RATH

Die Flüchtlinge in Deutschland sind heute eine Elite. Wie bitte?

Natürlich sind Flüchtlinge immer auch besonders schutzbedürftig, weil sie entwurzelt sind, neu anfangen müssen, Sprache und Land nicht kennen und leider auch vielfachen Anfeindungen ausgesetzt sind. Aber die Flüchtlinge, die es nach Deutschland oder in andere westeuropäische Staaten geschafft haben, sind nicht die Ärmsten der Armen, sondern eher die Starken und Durchsetzungsfähigen und auch die, die sich diese Art von Flucht leisten konnten.

Schuld ist natürlich die Asylpolitik in Deutschland, die von den Flüchtlingen verlangt, erst mal unsere Mauern zu überwinden, bevor wir Schutz gewähren. Früher genügte es, an der Grenze um Asyl zu bitten. Heute wird jeder Flüchtling zurückgewiesen, der auf dem Landweg einreisen will. Denn Deutschland ist von vermeintlich „sicheren Drittstaaten“ umgeben. Also müssen Flüchtlinge illegal ins Land kommen und ihren Reiseweg verschleiern, so dass eine Rückschiebung nicht möglich ist. So bekommen sie zumindest ein Asylverfahren nach der Genfer Flüchtlingskonvention.

Auch die Reise nach Deutschland wird immer schwieriger. Früher interessierten sich die Staaten entlang der Route kaum für die Flüchtlinge, schließlich wollten die ja nach Westeuropa. Heute sind auch die Grenzen unterwegs aufgerüstet – auf westlichen Druck hin und mit europäischem Geld. Die zuverlässige Sicherung der Grenzen gilt als Test für die EU-Reife. Früher konnten sich Flüchtlinge, wenn sie das Geld hatten, ins Flugzeug setzen und nach Deutschland reisen. Heute gilt für fast alle Herkunftsländer Visazwang, und Fluggesellschaften werden bestraft, wenn sie dies nicht streng kontrollieren.

Flucht ist heute ein sehr aufwändiges Unternehmen, das ohne illegale Helfer, die so genannten Schleuser, kaum zu bewerkstelligen ist. Wer nach Deutschland kommen will, muss da schon einige tausend Euro investieren. Oft legen Familien zusammen, um wenigstens ein Familienmitglied in den Westen zu bringen, in der Hoffnung, später nachzukommen.

Wer Asyl in Westeuropa sucht, sucht also nicht nur Schutz, sondern will nicht zuletzt nach Westeuropa. Schutz vor der unmittelbaren Bedrohung kann man in der Regel einfacher haben. Das Fluchtunternehmen ist dagegen äußerst riskant. Flüchtlinge ersticken in Lastwagen, kentern mit ihren Booten, erfrieren beim Durchwaten von Wasser. Niemand weiß, wie viele auf dem Weg nach Westeuropa sterben.

Dementsprechend kommen vor allem die jungen, agilen, leistungsstarken Flüchtlinge nach Westeuropa. Und es sind vor allem Männer. Während Frauen und Kinder weltweit rund drei Viertel aller Flüchtlinge ausmachen, ist das Verhältnis in Westeuropa genau umgekehrt.

Migration und die Suche nach Schutz überlagern sich hier offensichtlich, was nicht heißt, dass Schutz überflüssig wäre. Im Gegenteil, die Anerkennungsquoten liegen nach Abschluss von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren höher, als manche Innenpolitiker glauben. Je nach Jahr erhalten zwischen 10 und 25 Prozent der Antragsteller Schutz in Deutschland.

Dabei ist im Konkreten vieles unbefriedigend. Deutschland ist einer der wenigen Staaten, die nichtstaatliche Gefahren (z. B. durch islamistische Terroristen) nicht als Verfolgungsgrund anerkennen. Der UN-Flüchtlingskommissar kritisiert das regelmäßig. Auch die oft blauäugige Annahme innerstaatlicher Fluchtalternativen etwa im Irak oder Russland führt häufig zur Ablehnung von Schutzansprüchen.

Die Abschiebung in Folter und Tod dürfte dennoch zum Glück eine sehr seltene Ausnahme sein. Wenn das eine Schutzinstrument nicht greift, dann gibt es meist noch einen anderen Weg.

So ist in den vergangenen Jahren laut UNHCR kein einziger Flüchtling abgeschoben worden, der sich auf nichtstaatliche Verfolgung berief – trotz der restriktiven Haltung der deutschen Gerichte. Meist geht es darum, dass die Flüchtlinge einen schlechteren Status erhalten, als ihnen zustehen würde, etwa eine Duldung statt einer Aufenthaltserlaubnis. Konkret hat dies Folgen für Arbeitsmöglichkeiten, Familienzusammenführung oder Integrationsleistungen.

Wenn also bis zu einem Viertel der Antragsteller als schutzbedürftig anerkannt werden, heißt dies aber umgekehrt, dass mehr als drei Viertel nach dem Verfahren das Land verlassen müssten. Die freiwillige Rückkehr ins Heimatland ist aber selten, dazu war die Reise zu teuer. Viele Betroffene tauchen deshalb unter und leben dann als Illegale in Deutschland. Andere werden geduldet, weil Abschiebungen aus technischen Gründen (z. B. fehlende Flugverbindung) nicht möglich sind oder weil die Heimatländer die Aufnahme verweigern. Wer seine Papiere vernichtet oder sich als Staatsbürger eines anderen Staates ausgibt, kann zusätzlich Verwirrung stiften.

Viele Asylhelfer bezeichnen auch abgelehnte Asylbewerber noch als schutzbedürftige Flüchtlinge. Zum einen trauen sie dem Asylverfahren nicht, zum anderen sehen sie die Perspektivlosigkeit in den Herkunftsländern auch als Ausdruck westlicher Globalisierungs- und Kriegspolitik. Auch die frühere Kolonialzeit sorge für fortwährende Verantwortung des Westens. Wer Gründe sucht, warum Migranten letztlich Opfer sind, wird sicher welche finden. Eher selten ist dagegen die radikalliberale Position, die jedem das Recht zuspricht, sein Glück dort zu suchen, wo es ihn hinzieht.

Bei drohenden Abschiebungen geht es dann oft weniger um die Gründe für die Herkunft, eher steht die gelungene soziale Integration im Vordergrund, vor allem wenn eine Arbeitsstelle vorhanden ist und Kinder hier aufgewachsen sind. Diese wird dann in Kontrast gesetzt zu Unsicherheit, Perspektivlosigkeit und drohender Verelendung im Herkunftsland. Doch auch hier hat de facto bereits eine Positivauswahl stattgefunden. Wer es nach der Ablehnung des Asylantrags schafft, lange in Deutschland zu bleiben und sich gut einzuleben, hat bessere Chancen auf politische Unterstützung und ein Bleiberecht.

Die britische Regierung hat diesen Zustand Anfang des Jahres heftig kritisiert. Ein Großteil des Geldes, das für Asylverfahren und Flüchtlingsschutz in Westeuropa ausgegeben werde, erreiche nicht die echten Flüchtlinge. In einem Diskussionspapier schlug Tony Blair daher vor, alle in Europa ankommenden Asylsuchenden sofort in „Schutzzonen“, die in der Dritten Welt eingerichtet werden, abzuschieben. Dies würde illegale Einwanderer abschrecken und so könnte das Asylverfahren auch kostengünstiger durchgeführt werden. Die anerkannten Flüchtlinge sollten entweder in diesen Schutzzonen bleiben oder von EU-Staaten aufgenommen werden.

Der Vorschlag wurde, auch von anderen Regierungen, zu Recht abgelehnt. So ist schon unklar, wie irgendwo im Nowhere-Land ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit anwaltlicher Beratung stattfinden soll. Auch die Bereitschaft, die letztlich anerkannten Flüchtlinge tatsächlich nach Europa zu holen, dürfte gering sein. Es ist allerdings nicht einzusehen, warum der reiche Teil der Welt sich an der Lösung der Flüchtlingskrisen nur marginal beteiligen soll.

Doch statt die Mauern um Europa weiter zu erhöhen, könnte man sie auch senken. Visapflichten könnten beseitigt werden, Abweisungen an der Grenze müssten aufhören. Wo Boote kentern, müsste die EU Fähren stellen – und damit auch die Ärmsten eine Chance haben, nach Europa zu kommen, könnte ihnen zumindest ein Kredit für die Reisekosten angeboten werden. Vermutlich würde eine solche Politik zu einem starken Ansteigen der Zahl echter und vermeintlicher Flüchtlinge in Europa führen. Die Folgen für die Akzeptanz der Flüchtlinge, die Kosten für Sozialhilfe und die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt wären dabei groß. Flüchtlingsgruppen lehnen solche Szenarien als Panikmache ab. Sie wollen zwar die Hürden senken, aber nicht über die Folgen reden. Letztlich vertritt heute kaum noch jemand eine Politik der offenen Grenzen. Man kümmert sich um die, die es nach Deutschland geschafft haben, und ist vielleicht auch froh, dass man nicht selbst entscheiden muss, wie viele Flüchtlinge nun tatsächlich nach Europa kommen können.