Experimentexistenzen, verpisst euch!

Wenn Kreuzberg ausschaut wie in Babelsberg entworfen: Leander Haußmann hat Sven Regeners Roman „Herr Lehmann“ verfilmt

Ein Staffordshire-Mix stellt sich Herrn Lehmann in den Weg. Knurrt ihn an. Bleckt die Zähne. Es ist früher Morgen im späten Sommer 1989, die Sonne ist gerade aufgegangen über Berlin, genauer: über dem Lausitzer Platz in SO 36. Christian Ulmen alias Herr Lehmann will nach Hause, dringend, weil er müde ist nach seinem Kneipenjob. Doch an dem Hund geht kein Weg vorbei.

Waren Kampfhunde im Sommer 1989 schon in Mode? Oder tauchten sie erst später auf? Wen immer ich fragte, er konnte sich nicht zuverlässig erinnern. Wer im elektronischen Archiv des Spiegel sucht, findet für das Jahr 1988 einen Eintrag, für das Jahr 1989 keinen. Im taz-Archiv sieht es ähnlich aus. Sven Regeners Roman „Herr Lehmann“, die Vorlage für Leander Haußmanns gleichnamigen Film, spricht meist nur von einem Hund, einmal von einem Killerhund.

Wer ein period piece dreht, hat es nicht leicht. Sobald die vergangene Zeit mit Hilfe von Kostümen, Gebrauchsgegenständen, Waren, Musik und den damit verbundenen Wiedererkennungseffekten rekonstruiert wird, ist das Risiko groß, sich in dem einen oder anderen Detail zu irren. Löst schon in der Eingangssequenz der Staffordshire-Mix Zweifel aus, so sind auch später die Proportionen zwischen dem Kreuzberg des Films und dem der Erinnerung aus den Fugen. Das Licht der Laternen leuchtet in „Herr Lehmann“ gelblich statt weiß. Die Häuser mit dem bröckelnden Putz und die engen Straßenzüge erinnern an eine ostdeutsche Kleinstadt in den 80er-Jahren. Und manchmal trägt Katrin, die schöne Köchin aus der Markthalle (Katja Danowski), die weite Hose und die kurze Jacke so, wie es erst Mitte der 90er-Jahre en vogue war.

Nun wäre es penibel, wollte man einem Film, einer Fiktion mithin, aus solchen Petitessen einen ernsthaften Vorwurf machen. Ein paar unstimmige Details in der Rekonstruktion einer vergangenen Zeit sind allemal besser als sklavische Treue. Denn die verstellt den Blick fürs Wesentliche. Nur verhält es sich in Haußmanns „Herr Lehmann“ leider so, dass eben dieser Blick in die falsche Richtung führt. Worauf der Film zustrebt, worin er sein Gravitationszentrum findet, das ist der 9. November 1989. Der Tag des Mauerfalls ist auch der Tag, an dem sich Herrn Lehmanns müßiggängerische Existenz überholt hat. Seine Ziellosigkeit, die Nächte in den Kneipen, die Liebe zum Beck's: All das hat nun ein Ende. Es ist der Tag, an dem er erwachsen wird. Und Kreuzberg, die Insel der seligen Experimentexistenzen, soll es ihm nachtun.

Natürlich ist diese Folgerichtigkeit das Ergebnis einer nachträglichen Konstruktion. Haußmanns Blick auf die Vergangenheit verändert, was er anschaut. Denn er kann und will vom Geschehenen nicht substrahieren, was sich seither ereignet hat. Dabei lässt er es an Empathie mangeln. Hausbesetzungen? Feminismus? Schwuler Glamour in der Oranienstraße? Anatolien am Mariannenplatz? Man muss keine heiligen linken Kühe anbeten, um zu bemerken, dass sich schon Sven Regener hierfür nur am Rande interessierte und es bei Haußmann ganz vergessen ist. „Herr Lehmann“ zeigt ein Kreuzberg made in Babelsberg, voller Kneipen, in denen sich verkrachte Existenzen wie in Puppenstuben einrichten. Ein Bezirk als Spielwiese: Hier lässt sich die Pubertät nach Gusto verlängern, und man lässt es sich wohl sein in der selbst verschuldeten Verantwortungslosigkeit. Als bestehe Verantwortung darin, dass man einen Beruf ergreift, eine Familie gründet und staatstragend wird. Als seien die Versuche experimentellen Lebens der 80er Kinderkram, den es via nationaler Einheit zu überwinden gelte. In die neokonservative Stimmung der ersten Postwendejahre hätte diese Sicht gut gepasst, heute mutet sie démodé an.

Vor allem aber stimmt sie nicht: Im August 1989 strebte in Kreuzberg nichts der Maueröffnung entgegen. Der Bezirk grenzte zwar an die Hauptstadt der DDR, doch war er zugleich so weit von ihr entfernt wie kein zweiter Ort der BRD. Und obwohl der November 1989 unmittelbar bevorstand, kündigte er sich im August 1989 durch nichts an. Haußmann hätte einen Film über eine paradoxe Zeit und einen paradoxen Ort machen können. Doch statt sich dessen bewusst zu sein, schlägt er für seinen Helden die gerade Schneise des Bildungsromans.

Dabei klammert sich der Film an den Klamauk wie einst „Der bewegte Mann“ an den Tuntenwitz. Ehe Haußmann etwas ernst nimmt, macht er sich lieber einen Spaß daraus; und so kommt „Herr Lehmann“ dann doch noch zu seinem Paradox: So viel dem Film am Erwachsenwerden seiner Hauptfigur liegen mag, in seinen Witzen ist er abgrundtief pubertär. CRISTINA NORD

„Herr Lehmann“. Regie: Leander Haußmann. Mit Christian Ulmen, Detlev Buck, Katja Danowski u. a., Deutschland 2003, 105 Min.