Paralleluniversen, vereinigt euch!

Der Comic zum Film: In „The League of Extraordinary Gentlemen“ werden die Superhelden des 19. Jahrhunderts aufgerufen. Das Stelldichein von Mr. Hyde und Kapitän Nemo ist ein Spiel mit Zitaten und eine Verbeugung vor dem Schauerroman

von ANDREAS HARTMANN

1841 geschah in Paris in der Rue Morgue ein Mord. Eine affenartige Gestalt ermordete die Prostituierte Anna Coupeau, die allgemein als Nana bekannt war. Bald darauf erfährt man, dass es sich bei dem Monster um niemand anderen als Mr. Hyde handelt, der zu einem goliathgleichen Urvieh mutieren kann, während er in seinem bürgerlichen Leben als Dr. Jekyll doch ein umgänglicher Typ ist.

„The League of Extraordinary Gentlemen“, der Comicband von Autor Alan Moore und Zeichner Kevin O’Neill, liefert nicht nur prominente Persönlichkeiten, sondern ein umfassendes Referenzsystem. Hier werden Verweise auf weltberühmte Superhelden nicht mehr nur angedeutet wie bereits in Alan Moores Großwerk „Watchmen“ aus dem Jahr 1986. Vielmehr wurden sämtliche Mitglieder der League of Extraordinary Gentlemen aus dem Figurenrepertoire bekannter Werke vom hochkulturellen Literaturkanon bis zum Schundheftchen schlichtweg geklaut. So wird Jules Vernes Kapitän Nemo kurzerhand zum Kapitän der Extraordinary Gentlemen.

Ähnlich der „Gerechtigkeitsliga“, der legendären 40er-Jahre-Superhelden-Posse aus dem Hause DC-Comics, sind die Extraordinary Gentlemen ein Heldenverbund im Dienste der Gerechtigkeit – allerdings nach Art von Fantasy- und Abenteuerromanen, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts erschienen. Der Unsichtbare Mann, den sich H. G. Wells ausgedacht hat, kommt ungesehen in jedes Schlafzimmer; Robert L. Stevensons Mr. Hyde macht mit seinen Bärenkräften jeden Gegner platt; und Kapitän Nemo schippert unsere Helden-Truppe an jeden gewünschten Ort.

Moores und Neills Konzept, im Reich literarischer, längst ein Eigenleben in der heutigen Populärkultur führender Figuren zu wildern, überrascht durch seine Maß- und Respektlosigkeit. Im einen Moment befinden wir uns noch mit Kapitän Nemo „zwanzigtausend Meilen unter den Meeren“, im nächsten Kapitel wohnen wir schon gefährlichen Abenteuern von Sherlock Holmes weit oben in Reichenbach in der Schweiz bei. Moore und Neill gestalten die unterschiedlichen Entwürfe und Spinnereien der Fantasy-Literatur des 19. Jahrhunderts als zusammenhängende Welt. Die ursprünglichen fiktionalen Grenzen fallen, und aus verschiedenen Paralleluniversen wird ein einziger Kosmos, in dem nurmehr der eine Autoren-Gott Alan Moore das Sagen hat. Atemberaubend.

Von postmoderner Beliebigkeit kann dabei keine Rede sein. Das Spiel mit den Zitaten wirkt nie überambitioniert, sondern mit viel Humor und Liebe zum Detail erstellt. Vor allem dieser Humor zieht sich nicht nur durch die Story, sondern reicht bis zur Aufmachung und Gestaltung des Comics. Alan Moore wird beispielsweise auf dem Comicrücken als „Schriftsteller und ehemalige Zirkusattraktion“ eingeführt, und Kevin O’Neill „begann seine Karriere 1859 als Faustkämpfer“.

Alan Moore/Kevin O’Neill: „The League of Extraordinary Gentlemen“. 192 Seiten, Speed 2003, 20 €