Mädchen, Huren, Heilige

Hier das gute, alte Mütterchen Russland, dort das mythisch aufgeladene Konzept reiner Weiblichkeit, das den irdischen Körper transzendiert: Über das Bild der Frau in einigen neuen russischen Romanen

von KATHARINA GRANZIN

In der Sowjetunion galt die Geschlechterfrage als mehr oder weniger gelöst, denn alle waren ja irgendwie gleich. Die Frau an sich war daher nie ein großes Thema für die Literatur. Arbeiterin und Bäuerin, die Ikonen des neuen Glaubens, standen für ein kameradschaftliches, entsexualisiertes Miteinander der Geschlechter und – quasi als Ausgleich – für ein geradezu libidinöses Verhältnis zur körperlichen Arbeit. Die weiblichen Rollenmodelle der Bestarbeiterinnen, Soldatinnen, Ingenieurinnen, die in Literatur, Film und Theater präsentiert wurden und mit der Realität nicht immer viel zu tun hatten, besaßen gerade darin Vorbildcharakter, dass ihr Geschlecht kaum eine Rolle spielte. Frau und Mann kämpften Seite an Seite für den Aufbau des Kommunismus. Paarungsverhalten und Fortpflanzung waren diesem Ziel unterzuordnen. Auch die anstrengende Organisation des privaten (Über-)Lebens, die wie selbstverständlich den Frauen oblag, fand lange keinen Eingang in die Literatur.

Erst mit den Achtzigerjahren entstand eine eigene sowjetische „Frauenliteratur“, die den Alltag und die existenziellen Nöte von Frauen in den Mittelpunkt stellte. Eine Art (ironischer?) Nachhall dieser Alltagsliteratur, die ideologische und politische Fragen wie aus Trotz bewusst ausklammerte, findet sich in Alexander Ikonnikows kleinem Roman „Liska und ihre Männer“. Die Handlung erstreckt sich von den späten Sechzigerjahren bis in die Gegenwart. Die junge Liska flieht aus der Enge ihres Dorfes in die Stadt, wo sie sich durchschlägt – von Job zu Job, von Mann zu Mann, gerät an einen Beischlafdieb, einen Parteibonzen, einen Trolleybusfahrer und einen Afghanistanveteranen. Vom Leben nimmt sie, was sie gerade kriegen kann. Sie ist das Sinnbild einer durch und durch phlegmatischen Provinzgesellschaft, in der das Private den vollständigen Sieg über das Politische davongetragen hat. Der Umsturz in der Sowjetunion, Jelzin auf dem Panzer, der Krieg in Afghanistan – all das berührt Liskas Leben nur am Rande.

Das Büchlein liest sich gut weg, ist aber schnell vergessen, was vor allem an der seltsam konturlosen Hauptfigur liegt, die Ikonnikow nur als Erzählanlass für seine Episoden zu interessieren scheint. Dass Liska hübsche Beine und wenig Busen hat, genügt ihm als Charakterisierung.

Dagegen sind die Frauenbilder, die Michail Kononow und Svetlana Vasilenko in ihren Romanen entwerfen, aus dem mythischen Stoff, aus dem Legenden gewebt werden. Gleichzeitig lassen diese beiden Bücher sich auch als nachträgliche Polemik gegen das verlogene sowjetische Frauenmodell lesen. Michail Kononows während der Perestroika entstandener Roman „Die nackte Pionierin“, der zur Zeit des Großen Vaterländischen Kriegs (des Zweiten Weltkriegs) spielt, zeigt die Pervertierung des geschlechtslosen „Arbeiterin-und Bäuerin“-Modells.

Die vierzehnjährige Maria, genannt Motte, kämpft an der Front gegen die Deutschen. Auch mit der Waffe, vor allem aber durch die moralische Unterstützung der Truppe in Form von sexuellen Diensten an den Offizieren. Anders als die kommunistische Lehre es vorsieht, schreitet die Geschichte bei Kononow nicht immer weiter voran, sondern läuft rückwärts. Maria nämlich, so beginnt es, geht zu ihrer Hinrichtung. Ihr letzter Gang ist Ausgangs- und Schlusspunkt einer langen introspektiven Rückschau, die nirgendwo eine tröstliche übergeordnete, auktoriale Instanz bietet, sondern gefangen ist in der Perspektive ihrer noch so kindlichen, tapfer duldenden Heldin, die sich so gern etwas vormacht. Nicht enden wollen die Schilderungen der sexuellen Zumutungen, die Motte erdulden muss – oder erdulden will, nach bester Pionierehre, zum Wohl des Vaterlands. Je weiter die Erzählung zurückschreitet, desto deutlicher wird jedoch, wie wenig selbstbestimmt Marias/Mottes Rolle als Regimentshure ist und wie sehr sie leidet an ihrem körperlichen Ausgeliefertsein. Gleichzeitig verachtet sie die eigene Schwäche, da sie doch jenen glaubt, die ihr sagen, sie müsse auf diese Art zum Sieg des Kommunismus beitragen.

Diese moderne Märtyrergeschichte, die auf realen Begebenheiten basiert, kleidet Kononow in ein poetisch durchwirktes, erzählerisch vielschichtiges Gewand, spielt kunstvoll mit verschiedenen Bewusstseins- und Zeitebenen, erzählt in doppelter Rückblende nebenbei ein sowjetisches Kinderschicksal in Zeiten des Krieges und entrückt die schwer geprüfte Existenz der armen Maria schließlich ins Metaphysische. Denn während ihre geschundene körperliche Hülle schläft, erhebt sich ihr Geist und wird zur „Möwe“, die unbeschadet über das Grauen hinwegfliegen kann, das ihr Land überzieht; eine Engelsgestalt von vollkommener Reinheit, die jenen erscheint, die da mühselig und beladen sind.

Mit der missbrauchten Kindfrau Maria hat Kononow wieder einen Archetypus in die russische Literatur eingebracht, dessen bekannteste Vertreterin die Figur der Sonja in Dostojewskis „Schuld und Sühne“ ist: die heilige Hure, die schuldige Unschuld. In Maria trifft dieser vormoderne Archetypus zusammen mit dem Konzept der sowjetischen Heldin und führt dieses ad absurdum. Denn dahinter verbirgt sich immer noch das schwer geprüfte Mütterchen Russland: unendlich leidensfähig, voll unendlicher Vergebung und doppelt geschunden – nicht nur von den Feinden der Sowjetunion, sondern auch von ihren Helden.

Auch Svetlana Vasilenkos Roman „Die Närrin“ operiert mit einer ähnlich entrückten weiblichen Hauptfigur. Während Kononows Pionierin jedoch erst durch ihr irdisches Martyrium zu einer höheren Existenz gelangt, ist Vasilenkos Närrin eigentlich gar nicht von dieser Welt, sondern eine immer wiederkehrende Reinkarnation des Prinzips reiner Unschuld. In der Rahmenhandlung des Romans, die die Kalte-Kriegs-Atmosphäre der Sechzigerjahre schildert, tritt sie als geistig behindertes Mädchen Nadjka auf, Schwester einer kindlichen Ich-Erzählerfigur, und erscheint im eingeschobenen Haupterzählstrang, der dreißig Jahre früher spielt, unter dem Namen Hanna. In den Dreißigerjahren erreicht die Verfolgung der vermeintlichen Feinde des Fortschritts auch die astrachanische Steppe und das damals noch verschlafene Städtchen Kapustin Jar, später eines der sowjetischen Raumfahrtzentren. Hanna, die als zurückgeblieben gilt und den Mund nur zum Singen öffnet, kommt zu dieser Zeit ins örtliche Waisenhaus, dessen Leiterin, durch den Namen Traktorina Petrovna beinahe karikierend als Parteigängerin der Revolution charakterisiert, die wehrlosen Kinder grausam schikaniert. Nachdem Hannas bester Freund zu Tode gefoltert worden ist, flieht sie und muss auf ihrer Odyssee durch Steppe und Dörfer weitere Gräuel mitansehen, überlebt jedoch auf wundersame Weise und wird zur Heiligen.

Mit betont kargen sprachlichen Mitteln evoziert Vasilenko eine einzigartige, archaische Atmosphäre, surrealistisch geladen wie bei Platonov und von so selbstverständlicher, kindlicher Religiosität wie eine alte Heiligenlegende. In Hanna/Nadjka siegt das Heilige über das Profane, das Mythische über das Rationalistische, das alte Russland über die Sowjetmacht. Hannas Gegenspielerin Traktorina Petrovna, die ebenfalls auf beiden Erzählebenen auftritt – nicht, wie Hanna, als immer gleich erscheinende Reinkarnation, sondern auf irdische Weise gealtert –, repräsentiert den modernen Rationalismus in seiner dümmsten, grausamsten Form. In dieser abstoßenden Karikatur einer Hardcore-Kommunistin wird gleichzeitig das in der Arbeiterin-und-Bäuerin-Ikone verewigte sowjetische Frauenbild diskreditiert. (Der historisch kurzlebige, revolutionäre Vorname „Traktorina“ leitet sich in der Tat von „Traktor“ ab. „Traktorina“ ist so der kommunistisch korrekteste Vorname etwa für eine Kolchosbäuerin.) Hanna/Nadjka in ihrer absoluten, nicht ganz diesseitigen Unschuld dagegen besitzt eine Art metaphysischer Jungfräulichkeit, die ihr mythische, unvergängliche Kräfte verleiht.

Bei aller Unterschiedlichkeit in Thematik und Erzählweise enthalten „Die Närrin“ und „Die nackte Pionierin“ dieselbe Symbolik. Beide bedienen sich eines ähnlichen mythisch geladenen Konzepts reiner Weiblichkeit, das den irdischen Körper transzendiert. Bei Vasilenko ist dieses Konzept überdeutlich christlich inspiriert, während Kononows Lichtgestalt vielfältig interpretierbar ist. Die neuen und doch uralten Legenden, die diese Romane erzählen, überführen die Mythen der Sowjetunion der Lüge, wobei Vasilenko sehr radikal vorgeht. Kononow demontiert lediglich die Heldenmythen des Großen Vaterländischen Krieges, Vasilenko dagegen betreibt den Exorzismus der gesamten sowjetischen Epoche.

Alexander Ikonnikow: „Liska und ihre Männer“. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke. Rowohlt, Reinbek 2003. 189 S., 17,90 € Michail Kononow: „Die nackte Pionierin“. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Kunstmann Verlag, München 2003. 287 S., 21,90 €ĽSvetlana Vasilenko: „Die Närrin“. Aus dem Russischen von Esther Kinsky. DVA, München 2003. 192 S., 18,90 €