Weiter ein Platz in der Finsternis

Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Vergewaltigungen, kaum Rechts- und Polizeischutz: Die Lage der Frauen Afghanistans zwei Jahre nach den Taliban

von SVEN HANSEN

Zwei Jahre nach dem Beginn des Krieges zum Sturz der radikalislamistischen Taliban zeichnet die Menschenrechtsorganisation amnesty international (ai) ein erschreckendes Bild der Lage der Frauen in Afghanistan. Die Befreiung der Frauen, von den Taliban unter die Burka gezwungen und ohne Zugang zu Bildung und Arbeit zu Hause eingesperrt, war ein Ziel im „Krieg gegen den Terror“. Doch schon damals vermuteten viele, dass dieses Ziel nur zur Rechtfertigung des Kriegs beitragen sollte. Jetzt stellt ai in dem gestern veröffentlichten Bericht ernüchtert fest: „Die internationale Gemeinschaft und die von Hamid Karsai geführte afghanische Übergangsregierung haben sich als unfähig erwiesen, die Frauen zu schützen.“

Die Menschenrechtsorganisation kritisiert das hohe Ausmaß der Gewalt gegen Frauen und Mädchen, insbesondere Zwangsheiraten von Minderjährigen und häusliche Gewalt gegen Frauen, sowie mangelndes Unrechtbewusstsein und weitgehende Straflosigkeit. „Gewaltverbrechen geschehen mit der aktiven Unterstützung oder in passiver Komplizenschaft staatlicher Akteure, bewaffneter Gruppen, Familien und Gemeinschaften.“ Genannt wird der Fall einer Frau, die den von ihrem Vater ausgewählten Ehemann nicht heiraten wollte und deshalb von ihrer Familie umgebracht wurde. Ein Beamter, der den Mörder vor Gericht bringen wollte, scheiterte, weil der Täter von einer Miliz beschützt wurde, der er angehörte. Solche Verbrechen seien weit verbreitet, würden aber nur selten bekannt.

Afghanistans Justizsystem ist laut amnesty unfähig, das Recht von Frauen auf Leben und physische Sicherheit zu schützen. Vielmehr diskriminiere die Justiz die Frauen und setze sie dem Risiko des Missbrauchs aus. „Der Schutz der Frauen gegen Gewalt und der Schutz von Frauen, die akut von Gewalt bedroht sind, ist praktisch nicht vorhanden.“

Inzwischen gibt es laut amnesty sogar Berichte, dass Angehörige der neu formierten Polizei und Armee in solche Verbrechen verwickelt sind. So sei an einem Kontrollposten eine Frau festgenommen und als „Geschenk“ an Kommandanten übergeben worden. In einigen Landesteilen berichteten Frauen, dass ihr Leben aus Angst vor sexueller Gewalt bewaffnter Gruppen heute sogar schlimmer sei als unter den Taliban. Dabei basiert der Bericht auf Recherchen im Westen, Norden, Osten sowie im Zentrum des Landes, nicht aber in dem noch weit traditionelleren, überwiegend paschtunischen Süden, dem Ursprungsgebiet der Taliban. Dort dürfte die Situation noch finsterer sein.

Doch auch das Ausland trage Mitschuld. So hätten es etwa wichtige Geberstaaten, die eine Reform von Polizei und Justiz in Afghanistan unterstützten, versäumt, auf den Schutz der Rechte von Frauen zu achten. „In gewissen Fällen dürfte die internationale Intervention sogar die Geschlechterdiskriminierung verewigen und absegnen“, heißt es vernichtend. Weiter beklagt amnesty, dass bei der UN-Mission in Afghanistan (Unama) der Posten eines Gender-Beraters seit Ende 2002 unbesetzt sei und Unama keine Experten für den Umgang mit Gewalt an Frauen habe. Amnesty fordert für die internationalen Kabul-Schutztruppe Isaf ein besonderers Mandat für den Schutz von Frauen vor der Gewalt bewaffneter Gruppen.

Die Ratifizierung der internationalen Konvention zur Eliminierung aller Formen der Diskriminierung von Frauen durch die afghanische Übergangsregierung oder die Einrichtung einer nationalen Menschenrechtskommission sieht amnesty immerhin als Fortschritt. Die Organisation ist sich auch der großen Schwierigkeiten des Wiederaufbaus nach 23 Jahren Bürgerkrieg bewusst.

Der Tenor des Berichts ist vergleichbar mit ähnlichen Berichten zur Situation der Frauen anderer Organisationen aus dem vergangenen Jahr, doch verdeutlicht er besonders das Versagen der internationalen Gemeinschaft. Zwar war die Unterdrückung afghanischer Frauen unter den Taliban extrem, sie hatten aber auch schon davor wie jetzt eben danach in der Praxis nur unwesentlich mehr Rechte. Der Konflikt zwischen überkommenen Traditionen und gesellschaftlicher Modernisierung gerade im Hinblick auf die Frauen zieht sich durch die afghanische Geschichte der letzten hundert Jahre. So trug schon zum Sturz von König Amanullah 1929 bei, dass er Frauen vom Schleier befreien wollte, wogegen sich Islamisten und Traditionalisten wehrten. Die Frauen nicht genügend gegen diejenigen zu stärken, die ihnen grundlegende Rechte vorenthalten wollen, wirft amnesty der internationalen Gemeinschaft wie den gegenwärtigen Machthabern vor.

Den Bericht „Afghanistan: No one listens to us and no one treats us as human beings. Justice denied to women“ gibt es unter www.web .amnesty.org/library/index/engasa 110212003