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Das ständige Scheitern des besseren Wissens und das Problem mit den Sinnkrisen: In Louis Begleys neuem Roman „Schiffbruch“ erzählt ein erfolgreicher Schriftsteller die Geschichte seines Ehebruchs

von SEBASTIAN DOMSCH

Niemand würde behaupten, ein realistischer Erzähler sei besonders realistisch, zumal wenn es ein Ich-Erzähler ist. Man muss sich das einmal vorstellen, da erzählt jemand seine Geschichte, über hunderte von Seiten ohne Unterbrechung, und auch wenn das, wovon er berichtet, bereits vor Jahren geschehen ist, kann er sich noch wortwörtlich an ausgiebige Diskussionen erinnern, muss keinen Augenblick zögern, um sein Gedächtnis zu befragen. Das ist natürlich „in echt“ so wenig möglich wie ein James-Bond- Stunt, aber wir akzeptieren die Konvention, um die Geschichte zu erfahren.

Problematisch kann es werden, wenn uns dieser Kompromiss ganz deutlich vor Augen geführt wird, wie es Louis Begley in seinem neuen Roman „Schiffbruch“ tut, indem er dem Erzähler einen Zuhörer gegenübersetzt. Die beiden kennen sich nicht, der eine steht an der Bar und überlegt sich, ob er jetzt gehen soll, da lädt ihn der andere zu einem Whiskey ein und fordert ihn auf, sich eine Geschichte anzuhören, die noch nie zuvor jemand gehört habe. Das hat schon bei Coleridges „Rime of the Ancient Mariner“ unbeholfen gewirkt, und der durfte noch Magie ins Spiel bringen. Der Mann mit dem Drang zur Beichte ist der Schriftsteller John North, der nun ausgiebig von seinem Ehebruch erzählen wird, alle fünfzig Seiten unterbrochen von einem Schluck Whiskey. Ein paar Mal wird er in seinem Redeschwall innehalten und sich an seinen Zuhörer wenden mit Fragen wie: Sie fragen sich doch jetzt bestimmt, wie es weitergeht. Während der fiktionale Zuhörer stumm nickt, möchte der Leser gestehen: Nein, eigentlich eher nicht. Ehebruch für sich genommen ist eine schrecklich banale Angelegenheit, und was John North uns als Obsession verkaufen will, ist nur das ständige Scheitern des besseren Wissens. Er ist nicht besessen, sondern lediglich willensschwach und inkonsequent und darin auf langweilige Art berechenbar.

Im Leben von North gibt es allenfalls selbst geschaffene Konflikte. Er blickt auf eine Reihe von Romanen zurück, denen das Kunststück gelungen ist, sowohl kritische Anerkennung als auch akzeptable Verkaufszahlen zu erlangen. Die Literaturpreise werden ihm nachgetragen, und selbst Filmrechte hat er schon verkauft. Auch seine Ehe mit einer renommierten Ärztin ist in jeder Hinsicht vorbildlich und befriedigend. Lediglich die Familie seiner Frau, alter New Yorker Geldadel, nimmt ihn nicht ganz für voll, was er mit Neidgefühlen quittiert. Wie für einen Mann mittleren Alters nicht ganz ungewöhnlich, zweifelt er grundsätzlich ein wenig an seinen künstlerischen Errungenschaften, und wie in solchen Fällen nicht ganz klischeefrei, tröstet er sich über diese Zweifel mit einer jungen Geliebten in Paris. Die hat man sich wie Audrey Tatou vorzustellen, allerdings mehr Angélique als Amélie. Wie junge Geliebte in Paris eben so sind, hübsch, quicklebendig, frei von moralischen Skrupeln, sexuell ausgebufft und ordentlich „fou“. Deswegen werfen sie sich erst älteren Männern an den Hals und bringen dann mit ihrer kindlichen Beharrlichkeit deren bequem eingerichtetes Leben ins Wanken.

Als Bewunderer von Begleys geschliffenen und eleganten Romanen mit ihrer raffinierten Sympathielenkung ist man als Leser geneigt, die sich stereotyp entwickelnde Handlung und das Unbeholfene der Romankonstruktion mit einem wissenden Lächeln hinzunehmen, wartend auf den doppelten Boden, den Augenblick, in dem die Geschichte oder die Beziehung der beiden Personen eine Wendung nimmt, die alles in ein neues Licht rücken wird. Um allen anderen Fans die Enttäuschung nach dreihundert Seiten zu ersparen, sei es gleich verraten: Diese Wendung wird nicht kommen.

Der Roman entwickelt sich so geradlinig wie wahrscheinlich die meisten Affären auch, ein wenig Kribbeln, ein wenig Angst, dann Routine bis hin zum Gefühl der Belästigung. Raffiniert ist daran nichts, und für einen simplen erotischen Roman schreibt Begley zu distanziert analytisch. Wenn North seine sexuelle Beziehung zu Léa schildert, dann klingt das bisweilen nach Zimmerservice.

Im Alter von fast sechzig Jahren machte Begley die Erinnerung an seine Kindheit im besetzten Polen zu einem literarischen Welterfolg. Von da an schrieb er, der sein ganzes Leben als Rechtsanwalt gearbeitet hatte, eine Reihe von brillanten Romanen, die hauptsächlich in der Welt der Anwälte und Unternehmer der amerikanischen Ostküste spielen. Mittlerweile ist Begley ein weltweit anerkannter und preisgekrönter Autor, und nun muss der Protagonist seines neuesten Romans ausgerechnet Schriftsteller sein. Sollte Begley „Schiffbruch“ als Bewältigung einer eigenen Sinnkrise geschrieben haben – immerhin hat er dafür ungewöhnlich lange gebraucht –, dann ist dieser Versuch gründlich in die Hose gegangen, will er doch unnötigerweise fünf hervorragende Romane durch einen schlechten nachträglich rechtfertigen.

Louis Begley: „Schiffbruch“. Aus dem Amerikanischen von Christa Krüger. Frankfurt am Main, Suhrkamp 2003, 279 S., 19,90 €