Nullen und Einsen

Schriften zu Zeitschriften: Die aktuelle Ausgabe von „brand eins“ spürtden neuen Eliten nach, weiß aber leider nicht so genau, wer das sein soll

von KATRIN KRUSE

„Gleichheit ist nicht gerecht“, steht in schrägen weißen Lettern auf dem Cover von brand eins. Das „nicht“ ist unterstrichen, denn es ist die Abweichung, das „nicht“ macht die These zur Provokation. Ist sie eine Provokation? Elite in Deutschland: ein nicht geführter Diskurs? Ein marginaler jedenfalls, meint das Wirtschaftsmagazin und widmet die aktuelle Ausgabe der „selbstverständlichen Elite“: „Warum wir sie brauchen und wo wir sie finden“. Das Spektrum der Suche ist weit: von der systemischen Unternehmensberaterin zum Kunst vermittelnden Geiger, vom Stifter des alternativen Nobelpreises zu hochbegabten Kindern, von abwandernden Wissenschaftlern zum Statusverlust des Lufthansa-Piloten.

Der Titel formuliert die These, und dementsprechend definiert das Glossar Gleichheit als „missverstandenes Grundprinzip moderner, demokratisch verfasster Gesellschaften“. Die Deutschen hätten sich dem Gleichheitsgedanken dermaßen verschrieben, dass Herausragendes lieber nivelliert werde, heißt es im Editorial. Wolf Lotter nimmt den Gedanken in seinem Beitrag auf und spricht von der „kollektiven Mittelmaßgesellschaft“ mit reproduktiver Dynamik: „Eine Reihe von Nullen wird schnell zur Kette.“ Ausgerechnet der Nationalsozialismus, der wahre Eliten hasste und verfolgte, verhindere bis heute den Diskurs über Elite und Vorbilder.

Aber: „Dass Begriffe wie Elite, Anstand, Pflichten von den braunen Machthabern missbraucht wurden, kann nicht heißen, sie auf Dauer aus unserem Denkschatz zu verbannen.“ Also setzt Lotter den „Eliten, die so tun, als ob sie keine sind“, und dem Nivellierungsdruck des herrschenden Mittelmaßes einen Begriff des Zukunftsforschers Matthias Horx entgegen. „Zukunftsagenten“ nennt der die neue Gestaltungselite und beschreibt sie mit dem Vokabular des neuen Arbeitsbegriffs: Leadership auf Zeit statt Besitzelite, Arbeit an konkreten Projekten, mäandernder Lebenslauf. Dabei bleibt die Gestalt der neuen Elite ähnlich vage wie die der Entscheidungsprozesse. „Verantwortung übernehmen statt sich in Kuschelecken zu verkriechen“, heißt es floskelhaft, und unwirsch wendet sich Lotter gegen das Kollektiv, während er die großen Begriffe ungefüllt lässt und sein Plädoyer unklar bleibt.

Die systemische Unternehmensberaterin Roswita Königswieser hingegen zieht zum Verständnis der Eliten die Systemtheorie und den Soziologen Pierre Bourdieu heran: „Den Elitenbegriff kann man nur verstehen, wenn man die postmoderne Gesellschaft versteht.“ In unserer „komplexen Gesellschaft“ gebe es verschiedene Funktionssysteme mit eigener Logik und eigenen Aufstiegsmechanismen – und eben daher mit spezifischen Eliten. Das „Beziehungskapital“ öffne die Türen, und was die Elite kennzeichne, sei ihr „Selbstverständnis dazuzugehören“. Andererseits: „Wer wirklich Elite ist, der spricht nicht davon. Und fühlt sich auch nicht so. Wirkliche Elite sind Leute, die’s einfach sind.“

Wer ist sie nun, die neue Elite? Das hat nicht nur mit der Unterschiedlichkeit der Beiträge zu tun: Mal ist die Herabwürdigung der Besten zum Mittelmaß das Problem, mal die „Festung Elfenbeinturm“ der deutschen Wissenschaftselite: „Der weltweit anerkannte Soziobiologe Edward Wilson etwa findet nichts dabei, seine Wissensleistungen so aufzuschreiben, dass halbwegs interessierte Sozialpädagogen auch etwas damit anfangen können“, heißt es etwas despektierlich. Eher bleibt der Begriff der Elite in den Definitionsversuchen von Wertelite, Gestaltungselite, Führungselite seltsam unumrissen. So fällt kaum mehr auf, dass der französische Philosoph Pascal Bruckner im Interview beim Stichwort Elite zunächst an „die Reichen“ denkt.

Vielleicht ist es der Brief von C. P. Seibt an seine imaginäre Tochter Sophie, der Aufschluss zu geben vermag: „Ich verstehe gut, dass hinter den definitorischen Wolken das Phänomen für dich verschwamm.“ Seine Hommage an die neuen Eliten als „Gegenwartsmacher“, die in Netzwerken denken und arbeiten, macht dabei eines deutlich: dass es „die“ neue Elite nicht gibt. Dafür ist das Phänomen zu vielgestaltig: Da sind die, die „weiblich oder männlich sind, diese oder jene Ausbildung haben oder gleich mehrere, alle möglichen Dialekte sprechen, unauffällige Biografien leben oder bunt gescheckte, in Unternehmen, Organisationen, Administrationen leisten oder außerhalb, alles von sehr jung bis sehr alt sein können“. So lässt sich „die selbstverständliche Elite“ möglicherweise weniger als Faktum denn als Hoffnung lesen: „Es kommt etwas Besseres nach.“

„brand eins“, Okober 2003, 6 €