Umso härter ist der Fall

Das Leben so abbilden, wie es ist, und nicht so, wie es sein soll: Das will Roger Michells Film „Die Mutter“ über Sex im Alter. Leider aber kommt er mit dem realistischen Anspruch auch nicht weiter als bis zum Klischeebild der unwürdigen Greisin

von PHILIPP BÜHLER

Es gibt Gründe dafür, den Realismus im Kino immer wieder und immer noch zu loben, besonders den bekanntermaßen besonders ungeschliffenen Realismus des britischen Films. Und es gibt Gründe, ihn zu verfluchen. Paradoxerweise tut man das gern, wenn er sein Ziel erreicht: das Leben so abzubilden, wie es ist, und nicht so, wie es sein soll.

„Die Mutter“ ist ein Film, den zu mögen wahrlich nicht leicht fällt. Erschwert wird die Angelegenheit dadurch, dass es ausnahmsweise nicht um die Armen und Entrechteten der Vorstädte geht. Sondern um jeden von uns. Es geht um das Alter und die Angst, die man davor hat.

Das Alter ist ein seltener Gast im Kino dieser Welt, was sich mittelfristig ändern wird. Denn auch die Zuschauer – das ist in Großbritannien nicht anders als bei uns – werden älter. Und sie werden sich wiedererkennen wollen in Figuren wie May, 64 Jahre, Witwe seit einem denkwürdigen Abendessen bei ihren Kindern in London. Ihr Mann Toots wurde dahingerafft von einem Basilikumrisotto. Das war er nicht gewohnt. Er war es gewohnt, von May täglich eine warme Mahlzeit zu bekommen, so wie er es gewohnt war, dass sie ihm davor die Schuhe bindet. Damit ist es jetzt vorbei. Für May beginnt ein neues Leben.

Zu Hause hält sie es nicht mehr aus. Also zieht sie bei ihren Kindern ein, denen es mit dem Alter geht wie dem Kinopublikum: Sie wollen nichts davon wissen. Nach einigen Scharmützeln zwischen Old Britain und New Economy geschieht das Ungeheuerliche: May verliebt sich in den Freund ihrer Tochter Paula. In aller Stille hat sie ihre verschüttete Sexualität wiederentdeckt. Beim Betrachten eines jungen Adonis in der Skulpturenabteilung der Tate Gallery. Im Wintergarten, den der muskulöse Darren im Haus ihres Sohnes zusammenzimmert. Der Wintergarten wird nie fertig – die New Economy ist finanziell am Ende. Aber May und Darren schlafen miteinander. Erst schüchtern. Dann heftig. Und bis zum ungemein frustrierenden Ende bleibt wunderbar in der Schwebe, warum sie das tun.

Klar ist hingegen, dass sich Drehbuchautor Hanif Kureishi nach der kaputten urbanen Sexualität in „Intimacy“ nun also der Alterssexualität widmet. Als Regisseur wurde Roger Michell gewonnen, der in „Notting Hill“ noch funktionieren ließ, was bei Kureishi immer dysfunktional bleiben wird: Liebe, Sex, Familie. Kureishi gewinnt. Die beiden haben nicht vor, ein erfülltes Liebesleben im Alter als Möglichkeit auch nur in Erwägung zu ziehen. Die sensible Erzählung dient dazu, die Figuren nur umso härter zu Fall zu bringen. Der schillernde Darren erweist sich als zweifelhafter Charakter. Die spröde May, von Ann Reid mit viel Mut zur Verletzlichkeit verkörpert, bleibt gefangen im Bild der „unwürdigen Greisin“. An diesem schrecklichen Befund ändert sich nichts dadurch, dass man sie „versteht“, die Sehnsucht nach Liebe ebenso sieht wie die Verbitterung, mit der sie ihrer labilen Tochter das Leben zur Hölle macht.

Der Film setzt noch eins drauf. May schläft mit dem gleichaltrigen Bruce, auch er ein Unwürdiger, der sich sabbernd und keuchend in sie ergießt. An diesem Punkt stellt sich die Frage, wie genau man noch hinsehen soll, um irgendwo den letzten Schimmer Hoffnung zu erhaschen. Natürlich wird May im letzten Bild die Familie verlassen, vielleicht mit neuer Zuversicht ein neues Leben beginnen. Aber das ist nicht mehr als der filmsprachliche Standard dieser oft mutigsten, manchmal aber auch fantasielosesten Art des Filmemachens. Es stellt sich außerdem die Frage, ob der nüchterne Blick überhaupt noch ausreicht, um den zweiten Anspruch des Realismus einzulösen: mit der Welt in Wechselwirkung zu treten, die Dinge zu verändern. Kann man ohne die phantasmagorische Sublimierung des Kommerzkinos überhaupt über Sex sprechen? Warum wirkt „Harold and Maude“ so viel mutiger?

Aber das sind natürlich viel zu grundsätzliche Erwägungen anlässlich dieses kleinen Films, der eines der wichtigsten Zukunftsthemen beherzt aufgreift. So werden Fortschritte eben gemacht, hier vor allem in der Enttabuisierung des reifen weiblichen Körpers und seines Begehrens nach einem jungen Mann.

Die billige, aber recht charmante Ausziehkomödie „Kalender Girls“ von Nigel Cole wird da demnächst weitermachen. Vielleicht gründet sich das Unbehagen ja auch nur auf das Fehlen von Humor, der das britische Kino und auch den früheren Kureishi einmal ausgezeichnet hat. Jener Humor, den selbst ein unwürdiger Greis wie David Bowie noch auf die Reihe bekommt. May mag sein „Space Oddity“, einer ihrer vielen liebenswerten Züge. Eines seiner neuen Lieder heißt „Never Get Old“.

„Die Mutter“. Regie: Roger Michell. Mit Ann Reid, Peter Vaughn u. a., Großbritannien 2003, 112 Min.