Mit Fachwissen vollgestopft: Raoul Schrott liest im Literaturhaus aus seinem neuen Roman „Tristan da Cunha“
: Zu viele Umwege

„Denn alle Utopien sind von jeher einsam und unzugänglich; deshalb ist es zu ihnen von überall her gleich weit.“ So formuliert es ein Erzähler in Raoul Schrotts jüngstem Roman Tristan da Cunha, aus dem er jetzt im Literaturhaus liest. Dennoch hat der Autor seinen utopischen Ort in einem konkreten geographischen Abseits platziert: Die titelgebende Insel Tristan da Cunha liegt mitten im Atlantik.

Schwer zugänglich, von heftigen Unwettern heimgesucht und nur mühsam landwirtschaftlich zu nutzen, wurde dieses 1506 entdeckte Eiland erst 1810 besiedelt. Schrott macht es zum Bezugspunkt seiner Figuren, dreier Männer und einer Frau, in deren Biographien Tristan da Cunha eine bedeutsame Rolle spielt. Ihre abseitige Lage macht die Insel zu einer Projektionsfläche für ihre Sehnsüchte. Schrotts Hauptmotiv ist dabei die Liebe, ihre Unmöglichkeit.

Der Roman beginnt und endet mit der einzigen weiblichen Stimme: der südafrikanischen Polarforscherin Noomi Morholt, die im Jahr 2003 viele Monate auf einer Station in der Antarktis zubringt. Dorthin gelangt irrtümlich eine für das Museum auf Tristan da Cunha bestimmte Kiste. Noomi stößt auf Briefe des anglikanischen Priesters Edwin Heron Dodgson, der im 19. Jahrhundert auf der Insel lebte. Außerdem auf die Journale des englischen Kartographen Christian Reval und auf die historische Aufarbeitung der Insel, verfasst Ende des vergangenen Jahrhunderts von dem irischen Briefmarkensammler Mark Thomson.

Mit der Polarforscherin liest man die Schriften, dazwischen schiebt sie immer wieder eigene Tagebuchaufzeichnungen. Auch sie eine Liebesversehrte. Alle drei Männer umkreisen die Insel und damit ihr unerfülltes Begehren. Schrott verknüpft die Fäden weiter, nennt ihre Frauen alle Marah, biblisch „die Bittere“. Reval scheitert an der Suche „nach dieser unmöglichen Liebe, die Nähe verspricht, indem sie fernbleibt“. Seine Marah ist einem Insulaner versprochen, bei dem sie schließlich bleibt. Der Priester verstrickt sich in Lust und Schuld. Und Thomson schlüpft in all die historischen Figuren der Insel, sich selbst ihn ihnen suchend. Aus dieser Distanz erst wird er fähig, seine gescheiterte Ehe nachzuvollziehen.

Schrott breitet eine ganze Welt vor dem Leser aus. Ihm gelingen wunderbare Beschreibungen einer fremden Landschaft: ihr Licht, ihre Farben, ihre menschenabweisende Kargheit. Er lässt das Dorf auf Tristan da Cunha, seine Bewohner und ihre Eigenartigkeit lebendig werden. Die Insel wird ihm zur Allegorie der Sehnsucht: nach sich selbst und nach dem geliebten Anderen. Doch das Kreisen der Männer um ihren Verlust scheint beschränkt, und allen gemeinsam ist die Flucht: in Gott, die Vermessung der Landschaft, die Leidenschaft des Sammelns. Es ist Noomi, welche „die gallige Melancholie jeden Selbstbetrugs“ darin erkennt. „Die Angst einer Liebe, die sich selbst verachtet und den anderen ungeachtet aller Widersprüche idealisiert, um so absehbar daran zu scheitern.“ Sie weist einen männlichen Blick zurück, der sie nur so lange begehrt, wie sie „das Dunkle und Ferne, das sie in mir sehen wollten, bewahrte.“ Das Ferne, die Insel, die Frau – in dieser Gleichung will sie nicht mehr aufgehen. Ihr Einwand aber liest sich wie ein korrigierender Kommentar zur Konstruktion des Romans: Seitenlangen geologischen Ausführungen folgen Seemannsgeschichten und dazwischen noch die Frage nach Gott, ausgebreitet auf über 700 Seiten. Um etwas über die Essenz des Liebens zu sagen, bedarf es dieser Umwege nicht.

Schrott hat die weibliche Stimme überzeugend konzipiert – und hätte den darin enthaltenden Erkenntnissen mehr trauen sollen. So will der Roman zu viel und begibt sich in die selbstverschuldete Gefahr, sich auf das reduzieren zu lassen, was ein begeisterter männlicher Kritiker in ihm sieht: eine „Männergeschichte“, die „Seegeschichten“ ja immer seien, die sich um die Liebe drehen. CAROLA EBELING

Raoul Schrott: Tristan da Cunha. München, Wien, Hanser 2003, 720 S., 26,70 Euro. Lesung: Di, 14.10., 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38