Vertreibung ist Gegenwart

Auch die europäische Perspektive ist zu eng für ein „Zentrum gegen Vertreibungen“. Eine Antwort auf das Plädoyer des Historikers Julius H. Schoeps (taz vom 2. Oktober)

Vor unseren Augengeschehen ethnische Konflikte. Fluchtund Vertreibungensind die Folge

Geschichtspolitische Debatten dienen politischen Interessen, nicht der historischen Erkenntnis. Nicht zuletzt dienen sie der Positionierung von politischen Akteuren, vor allem dann, wenn diese ihre Zukunft hinter sich haben. Besonders deutlich wird das an Erika Steinbach, die einst im Bundestag auf eine besonders abstoßende Weise vor Zuwanderern warnte („Die Lunte brennt“). Auch die politische Zukunft von Peter Glotz liegt weit hinter ihm. Vor einigen Jahren war er Vertreter eines Konzepts, das sich auf die Eroberung kultureller Hegemonie durch kulturelle Debatten orientierte. Erika Steinbach und Peter Glotz machen deutlich, dass die geschichtspolitische Debatte über die zentrale Erinnerungsstätte – das „Vertreibungszentrum“ – Politik unter Ausnutzung kollektiver Erinnerungen an Flucht, Vertreibung, Enthausung und Beheimatung dient.

Ohne Zweifel ist die integrale Leidensgeschichte im Jahrhundert der Diktaturen eine wichtige Herausforderung für die politische Diskussion und die historische Bildung. Zu den zahllosen Leidenserfahrungen des 20. Jahrhunderts gehören Vertreibung und Flucht – Folgen des Konzepts einer Ethnisierung des Nationalstaates. Durch kollektive Bedrohung, Entrechtung und Vertreibung wurden immer wieder Sprachgruppen, soziale Gruppen und Generationen „kategorial“ geprägt. Verfolgungen, Vertreibungen, Kriegsgefangenschaft, Flucht und individuelle Selbstbehauptung überlagerten sich und machen ohne Zweifel große Themen kollektiver Erinnerung aus. Zugleich machen diese Prägungen aber deutlich, dass Leidensgeschichten nur „integral“ erzählt werden sollen, denn sie berühren ganz unterschiedliche Erfahrungen, machen immer wieder Opfer zu Tätern und Täter zu Opfern, haben Gleichgültigkeit gegenüber verfolgten Mitmenschen zur Voraussetzung und stumpfen durch die Erfahrung des Schreckens die Sinne und die Empörungsfähigkeit ab. Dabei könnte das Vertreibungsthema gestatten, kollektiv bewältigte Herausforderungen nationaler Geschichte im Kontext Europa in pragmatischer Absicht zu deuten. Dies haben Vertreter des Ausstellungs- und Dokumentationskonzepts betont. Doch haben sie missachtet, dass dieses Thema seit den späten Vierzigerjahren der historischen Relativierung dient.

Ohne Zweifel wurden in der Abwehr dieser relativistischen Geschichtsklitterungen politisch zu korrekt Leidenserfahrungen mit der Warnung vor der „Aufrechnung“ zum Verstummen gebracht. Das war nicht zuletzt deshalb problematisch, weil Leiden immer individuell erfahren wird und nach Anerkennung durch die Mit- und Nachlebenden drängt. Daran hat es gefehlt, auch weil die Vertriebenen über Jahrzehnte hinweg nicht nur relativierten, sondern sich konsequent den Leidenserfahrungen anderer verschlossen.

Angezeigt wäre es gewesen, höchst unterschiedliche Leidenserfahrungen zu einer Art Leidensgeschichte des 20. Jahrhunderts zu integrieren und so auch für die anerkennungsfähig zu machen, die sich jeweils auf das eigene Leiden konzentrierten. Unbestreitbar ist Leiden immer individuell, auch dort, wo sich die Täter auf kollektive Rechtfertigungsmuster beziehen und die Opfer als Angehörige einer wie auch immer definierten Gruppe präpariert werden. Letztlich leidet der einzelne Mensch, und zwar nicht stellvertretend für sein „Volk“, sondern für sich. Der Einzelne nimmt kollektive politische Verfolgung als persönliches Schicksal wahr. Als solches sollte Leiden auch in der Folgezeit wahrgenommen werden, ohne Zweifel, aber „integral“, auch in der Öffnung des eigenen Blicks für die gleichzeitigen Leidenserfahrungen anderer. Dies entspricht dem Ziel von Ralph Giordano, der Erika Steinbachs Pläne unterstützt, weil nach seiner Überzeugung „das Humanum unteilbar“ ist.

Die Initiatoren des Vertreibungszentrums verfolgen also ganz unterschiedliche Interessen, wie etwa die Argumente von Arnulf Baring auf der einen, von Julius Schoeps auf der anderen Seite zeigen. Baring zielt auf eine Korrektur deutscher Befindlichkeiten. Er kann sich mit Schoeps kaum auf eine gemeinsame Initiative einigen, der vor allem historische Tabus durch eine Zerstörung von Vorhängen des Schweigens zerstören will und seinen Willen zur historisch gerechten Urteilsbildung artikuliert.

Wie aber wäre es, wenn man die deutsche Vertreibungsgeschichte einbettete in die Versuche der Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts, ethnisch homogene Gesellschaften zu schaffen, die Perspektiven des Klassenkonfliktes mit dem „Kampf der Rassen“ verbanden, tief beeinflusst durch die außenpolitischen und militärischen Interessen der großen Mächte. Wenn versucht würde, die Vertreibungsgeschichte in weltgeschichtliche Kontexte zu rücken, mit der Europäisierung der Welt, mit Imperialismus und Kolonialismus zu verknüpfen. Dann würde sich zeigen, dass auch der europäische Rahmen der Vertreibungen zu eng gewählt ist. Und vielleicht dämmerte dann, dass die Geschichte der Vertreibungen nicht beendet ist. Vor unseren Augen finden heftigste ethnische Konflikte in Afrika statt. Bürgerkriege, Flucht, Vertreibungen, Enteignungen und Massenmorde sind die Folge.

Vielleicht dämmert dann den Protagonisten im Kampf um die kulturelle und geschichtspolitische Hegenomie, dass die Ursachen innergesellschaftlicher Feindschaftserklärungen, eines exzessiven Binnennationalismus und der Entrechtung von Individuen keineswegs überwunden sind, dass Misstrauen, das sich zum Fremdenhass steigern kann, immer vorhanden ist und Exzesse feiert, wenn sich Politiker, kulturelle Eliten und Populisten zum Sprachrohr einer Exklusion machen, die nicht mehr Mitmenschen, sondern Gegenmenschen sieht.

Die deutsche Vertreibungserfahrung ist Vergangenheit und drängt an das Licht, weil die Erinnerung manche übermannt und so eine politisch nützliche Möglichkeit politischer Emotionalisierung eröffnet. Vertreibungserfahrungen werden aber auch gegenwärtig gemacht und setzen dann vor allem den Willen zur Beheimatung, die Bereitschaft zum Schutz voraus. Ob eine Politikerin, die vor zehn Jahren, auf dem Höhepunkt der Bürgerkriege auf dem Balkan, zum Bild der „brennenden Lunte“ griff, um die Schließung der deutschen Grenzen zu fordern, der beste Anwalt des „ungeteilten Humanums“ ist, ist entschieden zu bezweifeln.

Die Debatte über das Vertreibungszentrum dient der Politikunter Ausnutzung kollektiven Erinnerns

Vertreibung setzt in den Ankunftsgesellschaften den Willen zur Beheimatung voraus. Das ist mehr als Integration. Das verlangt die Kraft und den Willen zum Zusammenleben, zum Teilen, zur Wahrnehmung individueller Leidenserfahrungen im europäischen und im weltgeschichtlichen Zusammenhang. Und könnte zeigen, wie wenig damit getan ist, nationalgeschichtlich verengt ein Vertreibungszentrum zu fordern, das missverständlich angelegt ist und das sich stets in Bezug zu den Berliner Erinnerungsstätten an den Zivilisationsbruch setzen will, der die Vertreibungen europäischer Minderheiten während der Weltkriege einleitete.

PETER STEINBACH