Kultusminister kapitulieren

Erstmals haben die 16 Ressortchefs einen nationalen Bildungsbericht in Auftrag gegeben. Heraus kam ein Katastrophenszenario. KMK-Präsidentin Wolff verspricht Besserung frühestens für 2013

von CHRISTIAN FÜLLER

Karin Wolff (CDU) ist nicht zu beneiden. Der Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz geht es ein bisschen wie der Kapitänin eines Tankers, der vom Kurs abgekommen ist. Während ihre Aussichtsposten beständig „Eisberg voraus!“ rufen, muss Frau Wolff weiter die coole Schiffslenkerin mimen. So auch gestern: Keine neuen Erkenntnisse, teilte die hesssische Schulministerin mit, als ihr der neue Bildungsbericht vorgelegt wurde. Dabei ist diese erste Bilanz des nationalen Schulwesens seit 50 Jahren ein Sammelsurium von Katastrophenmeldungen.

Die Experten des „Instituts für Internationale Pädagogische Forschung“, die den Bericht verfasst haben, lassen kein gutes Haar an der deutschen Schule. Für Eltern und Schüler ist es demnach praktisch nicht möglich, das System zu duchschauen – weil es über die Länder so viele verschiedene Schularten gibt. Die Leistungen der Schule seien kümmerlich, so der Bericht. Sie fördere die SchülerInnen zu spät und zu wenig. Die deutsche Schule verfehle zudem ihren Grundauftrag der Chancengerechtigkeit, weil sie die Unterschiede zwischen den Schülern nicht etwa abbauen helfe, sondern sie sogar verstärke. So geht es 300 Seiten lang weiter, der Bildungsbericht übertrifft in seiner Schonungslosigkeit sogar die Pisa-Studie.

Die 16 Kultusminister haben nun ein Problem. Während sie seit dem Weltschulvergleich Pisa beharrlich die berühmten Affen spielen, die nichts hören, sehen und sagen wollen, mussten sie gestern einen formellen Beschluss über den Bericht herbeiführen. Schließlich sind sie es, die ihn in Auftrag gegeben haben. Wie aber beschließt man einen Offenbarungseid? Genau, mit gewundenen Formulierungen. „Bildungsprozesse sind nicht einfach mit Hebelumlegen innerhalb weniger Monate getan“, sagte Wolff. Sie vertröstete die Bildungsbürger, die nach Besserung gieren, auf die nächsten 10 bis 15 Jahre. Erst dann seien Veränderungen spürbar.

Die Bildungspolitiker des Bundes reagierten voller Wut. Wolff habe mit ihrer Zehnjahresperspektive den Bankrott erklärt, findet die Vorsitzende des Bundestags-Bildungsausschusses, Ulrike Flach (FDP). „Man kann nicht nur alles aufschreiben lassen“, sagte sie der taz, „man muss endlich zur Tat schreiten.“

Die Grünen-Abgeordnete Grietje Bettin warf den Kultusministern gar „Beschränktheit und Schubladendenken“ vor. Es sei falsch, den Bildungsbericht „nur auf die Schule zu beziehen“, wie es die Kultusminister täten. Tatsächlich betrachtet der erste nationale Bildungsbericht nur die Schule im allerengsten Sinn. Eine wirkliche Gesamtschau, die auch den Kindergarten, die berufliche Bildung und die Hochschule mit einbezieht, hatten die Kultusminister ausdrücklich nicht gewollt.

Bettin sagte, Bildungspolitik sei „die soziale Frage des Jahrzehnts“. Die Mängel in diesem Bereich hätten massive gesellschaftliche Auswirkungen, weil bestimmte Gruppen in Deutschland einen schlechteren Zugang zu Bildung bekämen. Es sei daher an der Zeit, von der „Jägerzaunmentalität“ wegzukommen. Bund, Länder und Betroffene müssten endlich gemeinsam zu strukturellen Reformen finden.

Mancher Politiker forderte gestern sogar einen Sachverständigenrat für „Bildung und Soziales“. An einigen Stellen leistet dies der Bildungsbericht bereits. Die Autoren kommen etwa in Bezug auf die Generationenfrage zu dem Schluss, dass sich „unserer Gesellschaft eine Vergeudung menschlicher Potenziale nicht mehr leisten kann“.

Genau das aber sei der entscheidende Mangel des deutschen Bildungssystems. Es produziere ein dünne Elite und ein fast 25 Prozent starke Gruppe von „Risikoschülern“. Das sind übrigens diejenigen, die von der Wirtschaft dieser Tage als unterqualifizierte Lehrstellenbewerber abgelehnt werden.

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