Zu kurz gekotzt

Wir Kinder vom Bahnhof Moskau: Anselm Weber eröffnet mit „Plastilin“ die Theatersaison in München. Leider verendet dort das Stück des russischen Skandalautors Wassilij Sigarew im Niemandsland zwischen Groteske und Betroffenheitspathos

33 Szenen, jede einzelne so hart und scharf wie eine Messerklinge

von SABINE LEUCHT

Über eine Million Straßenkinder gibt es in Russland, in Deutschland sollen es mindestens 7.000 sein. Eines davon steht auf der Bühne der Münchner Kammerspiele. Es ist ein Junge. Er ist 14. Und er heißt Maxim.

Christoph Luser spielt diesen Verlorenen mit jener Mischung aus sanfter Großäugigkeit und schlanker Kraft, die ihn wie einen der Jungen aussehen lässt, die Eros so liebt. Nicht wie ein Verführer, nur über die Maßen fremd wirkt er in der Gemengelage aus Schmutz und Suff, Nutten und Vergewaltigern, Verrat und Bösartigkeiten, die Wassilij Sigarew für sein Erfolgsstück „Plastilin“ in 33 kurze Szenen gepackt hat – jede einzelne davon so hart und scharf wie eine Messerklinge.

Dass Maxim in diesem postsozialistischen Schmutz zwischen „Verreck, du Fotze“, und „Mach die Schwuchtel alle!“ ganz und gar nichts zu suchen hat, daran lässt Anselm Webers Inszenierung nicht den winzigsten Zweifel aufkommen – und legt damit sogleich eine mögliche Quelle von Spannung trocken. Dass das Gemüt sich nicht rührt, wenn der Junge, der vom Fliegen und der Freiheit träumte, schließlich wie eine nasse Maus kopfunter auf der Bühne baumelt, das ist schon arg.

Dabei sieht es am Anfang noch nach einer guten Idee aus: Maxim sitzt ganz vorn am Abgrund und knetet sich eine Ersatzwelt mit den eigenen Händen zurecht: eine Welt aus Plastilin. Vielleicht, weil man kaum sehen kann, was er da tut, schließlich trägt ein anderer die Regieanweisungen vor. Dieser andere ist Spira, der Selbstmörder, dessen trostlose Beerdigung Maxim gleich besuchen wird. Ein riesengroßer staunender Blick, und der Junge ist für den ganzen Rest des 90-minütigen Abends an diese geheimnisvolle Figur gekettet: einer, dem alles im Leben zu Scheiße zerfällt, an einen, dem der Tod ein sanftes, vergebendes Lächeln aufgedrückt hat.

Als der 1977 geborenen Wassilij Sigarew in Russland zum ersten Mal aus seinem Debüt vorlas, hat man ihn empört bespuckt. Auf der Bonner Biennale 2002 wurde der finstere Blues des Arbeiter- und Bauernkindes dann als Entdeckung gefeiert. Beides kann man nach der Lektüre noch halbwegs, nach der Münchner Premiere aber gar nicht mehr nachvollziehen.

Weber, derzeit noch Oberspielleiter in Frankfurt am Main und bald schon Intendant in Essen, ist nicht der Mann, der ein realistische Schauerstück vollends in die Groteske abheben ließe, vor schlichtem Betroffenheitspathos scheint es ihn aber auch zu gruseln.

So liefert er nicht mehr als das Stück zum aktuellen Buchmessenschwerpunkt ab, in dem sich wunderbare Schauspielerinnen grässlich verbiegen, weil sie nicht wissen, wohin die Reise geht: Nicht nur Marion Breckwoldts Lehrerin hängt zwischen handfestem Realismus und schriller Monstrosität in der Luft. Allein Doris Schade in der Rolle von Maxims gebrechlicher Oma ist auch schauspielerisch ein echter Ruhepol. Klar, dass auch sie am Ende stirbt.

So zeigt „Plastilin“, wie im Postsozialismus die Hoffnung stirbt und nichts daraus folgt. Eindimensionaler als hier kann man das kaum inszenieren. Da liegt zum Saisonbeginn die kompliziert terrassierte Bühne (gestaltet von Katrin Nottrodt) da, als ob sie es sei, die bestaunt und begriffen werden müsse.

Wer weiß? Einmal, als Maxim einer Nutte zwischen die Beine kotzt, schiebt sich eine mobile Wand vor die Gute, so dass man nur ihren pinkfarbenen Hintern sieht. Wie sie die Kotze aufschleckt, das sieht man nicht mehr. Eine seltsame Fernhaltestrategie, die einen Abend hervorbringt, der ist wie das Mädchen, von welchem Maxim träumt: außen zartbunt und innen ohne Herz.