Das Jahrhundert in sieben Geschichten

Und dann war es doch wieder ein Junge: Sebastian Winkels’ Film „7 Brüder“ dokumentiert eine Familiengeschichte im Zeichen von protestantischer Ethik und Wiederaufbau. Die wichtigste Familieneigenschaft der zwischen 1929 und 1945 geborenen Protagonisten ist eine sanft selbstironische Tadellosigkeit

Der Film ist ein Beichtstuhl für Menschen, die nichts zu beichten haben

von BERT REBHANDL

Hartmut hätte eigentlich Heike werden sollen. Nach der Geburt aber hieß es wie gewohnt: Ein Junge! Die Familie Hufschmidt aus Mülheim an der Ruhr steht ganz im Zeichen des männlichen Chromosoms, und mit wissenschaftlichem Gleichmut fasst Sebastian Winkels sie auch auf in seinem Dokumentarfilm „7 Brüder“: Klaus, Hannes, Wolfgang, Dieter, Volker, Hartmut und Jochen, geboren zwischen 1929 und 1945, sind sprechende Gegenstände in einer filmischen Laborsituation. Es geht aber nicht um Reproduktionsbiologie oder Sozialisationstheorie, sondern um eine prekäre Disziplin: Physiognomie. In den Gesichtern, in der Körperhaltung der Hufschmidts hat sich das kurze 20. Jahrhundert eingeschrieben. Was hat es aus Männern gemacht, die einander beim Verfassen ihrer Entwicklungsromane über die Schultern sehen konnten?

Sebastian Winkels hat für seinen Film einen geschlossenen Raum entworfen. Die Protagonisten sitzen auf einem Stuhl, dessen funktionales Design viel Freiheit lässt, sich zu gebärden. Aber sie sitzen, und sie machen auch keine Anstalten, auszubrechen. Auf dem schachbrettartigen Muster ist ihnen ein Platz zugewiesen. Der Hintergrund ist schwarz. Die Hufschmidts sind Zeitzeugen wie die Auskunftspersonen des ZDF-Historikers Guido Knopp. Das Privileg des Überlebens, die Insignien einer bürgerlichen Dauer, das „Kaminlicht“, mit dem Knopp seine alten Männer schützt, spielen jedoch keine Rolle. Winkels weiß, dass er es mit einer Teilmenge der Geschichte zu tun hat, deren Gemeinsames so groß ist, dass er als Filmemacher keine Unterschiede einführen darf. Die schwarzen und weißen Felder auf dem Studioboden sind eigentlich schon zu metaphorisch.

Sobald die sieben Brüder zu sprechen beginnen, meistens in halbnahen Einstellungen, fallen Ähnlichkeiten auf: Die Farbtöne der Kleidung bezeugen einen familiären Habitus. Die Haarschnitte und Barttrachten sind zurückhaltend. Die protestantische Ethik, von der verschiedentlich die Rede ist, bekommt ein Gesicht auch dort noch, wo der Schauspieler in der Familie die Spuren eines guten Lebens zeigt. Die religiöse Mutter und der als Kaufmann tätige Vater bilden die Koordinaten, innerhalb derer die Berufswahl als das entscheidende Faktum erscheint (die Partnerwahl, gar die sexuelle Identität spielen kaum eine Rolle).

Dass jemand die Tradition des Kaufmanns fortführt, ist im System der männlichen Kontinuität nahe liegend. Dass ein Musiker sich kreativ betätigt, ein Bäcker sich mit einem Handwerk bescheidet, ein Lehrer sich mit dieser Wahl um die Verantwortung des Pastorenamts drückt und ein Manager dieses nach dem Ende der Laufbahn dann doch noch übernimmt – dies alles bleibt in einem Rahmen, in dem das protestantische Pfarrhaus der imaginäre Fluchtpunkt ist. Den rheinischen Nachkriegskatholizismus eines Heinrich Böll, der so prägend für die Bundesrepublik Deutschland war, macht Winkels ökumenisch durch die Stunde null, vor der die Unterschiede der kulturellen Milieus an Bedeutung verlieren.

Die Brüder Hufschmidt gehören der Aufbaugeneration an. Obwohl Sebastian Winkels den Jahren des Nationalsozialismus viel Zeit widmet, wird die Geschichte erst nach 1945 richtig spannend und spezifisch. Sie wird durch das gesprochene Wort vermittelt, durch das Spiel der Darsteller mit ihrem Sprach- und Erinnerungsvermögen, durch ihre Ausdrucksfähigkeit. Die Hufschmidts sind gute Erzähler, sie können sich selbst interpretieren, sie haben ihre Geschichte (auch als Familie) offensichtlich schon hinreichend versprachlicht, bevor sie sich vor die Kamera gesetzt haben. Es geht deswegen nicht um psychoanalytisches Material, das noch der Deutung bedürfte, sondern um eine Gestalt, die sie im Lauf der Zeit angenommen haben.

Es ist nicht der Verlauf ihrer Biografien, es ist die Zahl sieben, die den Film legitimiert – und ihn zugleich problematisch macht. Denn Sebastian Winkels provoziert durch seine Methode einen Blick, der die Brüder nicht an der Geschichte misst, sondern aneinander. Wer ist besser gealtert, wessen Eitelkeit ist schlechter bezähmt, wer duckt sich weg, wer schwindelt sich durch? Sie treten in einen Wettbewerb ein, in dem zuerst die Unterschiede, schließlich aber die Gemeinsamkeiten entscheidend werden. Sie haben sich als Individuen, schließlich aber vor allem als Familie durchgesetzt.

In ihrer Selbstaussage sind sie reine Gegenwart. Keinerlei Archivmaterial unterbricht ihre Präsenz vor der Kamera. Ihr Bild bekommt dadurch einen finalen Charakter, es zieht die Bilanz eines Lebens als einen Schnitt. Winkels konzentriert alles auf den Moment seines Interesses (gedreht wurde im Dezember 2001, sieben Tage für sieben Brüder), während zum Beispiel die Fotografin Herlinde Koelbl, die ähnlich physiognomisch arbeitet, ihre Porträts von Mächtigen bewusst als Langzeitstudie angelegt hat. Joschka Fischer und Gerhard Schröder können souverän auf ihre Umwege zurückblicken und geben gerade dadurch die ganze Arbeit ihrer Überwindungsleistungen preis. Winkels aber hat einen Beichtstuhl für eine Generation gebaut, die nichts zu beichten hat. Die Hufschmidts sind zu jung für eine Täterschaft im Zusammenhang der nationalsozialistischen Verbrechen. Sie könnten also nur die individuellen Verfehlungen gestehen. Da die wichtigste Familieneigenschaft jedoch eine sanft selbstironische Tadellosigkeit zu sein scheint, lässt die Montage von „7 Brüder“ nur den Schluss auf eine Erfolgsgeschichte zu.

Man muss gewissermaßen in deren Falten lesen, um hinter der aufdringlich diskreten Rhetorik des Winkel’schen Szenarios wieder den eigenwilligen Ton zu hören, den jeder Hufschmidt anschlägt. Sie kommen als Abstammungsgruppe zu ihrem Recht. Damit setzt Winkels die Natur gegen die Geschichte, das Bild gegen die Zeit, und das scheinbar so überzeugende „neutrale“ Präsentationsmodell von „7 Brüder“ erweist sich als Abstraktion, die ihr eigenes uneingestandenes Vorbild in einem endgültigen Abbild hat: in der Totenmaske, in der nur noch die Gesichtszüge sprechen.

„7 Brüder“. Regie: Sebastian Winkels. Mit Klaus Hufschmidt, Hannes Hufschmidt, Wolfgang Hufschmidt, Dieter Hufschmidt, Volker Hufschmidt, Hartmut Hufschmidt, Jochen Hufschmidt. Deutschland 2003, 86 Minuten