Nimm die Hüften mit

Man denkt, man hat es hinter sich, und alles beginnt von vorn: Der Dokumentarfilm „Damen und Herren ab 65“ von Lilo Mangelsdorff zeigt, wie Laien im Rentenalter ein Stück von Pina Bausch lernen. Es geht um neue Beweglichkeiten und Defizite des Alters, um Vertrauen und um Erinnerung

Das Altern und das Begehren: ein seltener Filmstoff, wie gerade in den Kritiken zu „Die Mutter“ von Hanif Kureishi und Roger Michell zu lesen war. Da kommt als Trost für diesen bitteren Geschmack ein Film gerade recht, der leider nur mit wenigen Kopien eingesetzt wird und jetzt von Stadt zu Stadt tourt: „Damen und Herren ab 65“ ist ein wunderbarer Film über dreizehn Männer und zwölf Frauen, die im Tanztheater von Pina Bausch einen neuen Blick auf ihr eigenes Leben wiederentdecken. Ein Jahr lang wurden sie von der Dokumentarfilmerin Lilo Mangelsdorff und der Kamerafrau Sophie Maintigneux bei den Proben zu „Kontakthof“ begleitet, der Wiederaufnahme eines alten Tanzstückes von Pina Bausch.

Die Liebe, die Sehnsucht, das ewige Hinterherrennen, aber auch taktierende Verletzung und kalkulierende Ablehnung ziehen sich als Motive durch den Stoff, aus dem das Tanzstück „Kontakthof“ gemacht ist. 1978 wurde es uraufgeführt und damals im Kontext einer Diskussion um Geschlechterrollen wahrgenommen. Wie vorgefertigte Träume und männliche Blicke den weiblichen Körper zurechtkneten, wie Handlungsmuster den Spielraum verengen, sah man vorgeführt in einem aggressiven und ironischen Training. Bei der Wiederaufnahme zwanzig Jahre später war aus der einst ungewohnt kalten Anatomie des Beziehungsalltags eine zärtliche Komödie geworden. Seht her, schienen diese „Damen und Herren ab 65“ zu sagen, wir sind zwar älter geworden, aber das Gerangel geht weiter.

Nur glaubt jetzt keiner mehr, dass diese Rollenmuster überwunden werden müssen. Man denkt, man hat es hinter sich, und dann beginnt alles wieder von vorn. Mit dieser Erfahrung haben die Leute, die sich 1998 auf eine Anzeige beim Wuppertaler Tanztheater bewarben, nicht gerechnet. Dass sie, die im Berufsleben teils gute Positionen bekleidet hatten, wieder wie ein Anfänger dastehen und sich zurechtweisen lassen müssen: Du bist zu langsam, halt die Schultern still, nimm die Hüften mit. Wieder zu lernen zu lernen, das bringt ungeahnte neue Beweglichkeit: nicht nur des Körpers, sondern auch des Geistes. Ich habe mich verändert, staunt eine Frau über sich selbst.

Ebenso erzählen die Damen und Herren ab 65 von den kleinen Schocks, wie die Defizite des Alters spürbar werden in der Anstrengung der Proben. Krankheiten greifen an und lassen sich nicht immer überwinden. Doch die gemeinsame Zeit wird zu einer Form von Gegenwart, wie keiner sie vorherahnen konnte.

Das Vertrauen, dass ein Tanzstück Sinn macht, teilen am Anfang längst nicht alle. Ist ja doch ziemlich anders als Rock ’n’ Roll, stellt ein Mann fest, einst erfahren darin, seine Partnerin herumzuwirbeln. Er ist wütend, dass er so lange braucht, abstrakte Gesten im eigenen Körper umzusetzen. Und schließlich vergnügt über seine Rolle, den Frauen mit einer Stoffmaus hinterherzujagen. So findet nach und nach jeder in der zwanzig Jahre zuvor geschaffenen Form ein Stück, wie maßgeschneidert für eigene Erinnerungen, für Widerstände, Ängste, Hoffnungen.

Sophie Maintigneux, die Kamerafrau, erhielt für „Damen und Herren ab 65“ auf dem Dokumentarfilmfest in Leipzig 2002 den Preis für die beste Kamera. Tatsächlich ist die Ruhe wohltuend, die sie jedem Einzelnem gönnt in den Erzählungen. So wird aus jedem Interview-Schnipsel ein Porträt. Zudem aber schafft sie es, in langen Einstellungen der Entwicklung der eigenen Dynamik des Tanzes Raum zu geben. Nichts ist hier forciert. So wird die Kraft, die der Tanz seinen Tänzern verleiht, unprätentiös spürbar.

KATRIN BETTINA MÜLLER

„Damen und Herren ab 65“. BRD 2002, 70 Min. Ab 16. Oktober in der Filmbühne am Steinplatz, in der Urania und im Bali-Kino