Die Wiedererweckung der Toten

Vorwärts im Geist der Post-Communist Condition! Die Ausstellung „Traumfabrik Kommunismus“ in der Frankfurter Schirn Kunsthalle sucht nach dem utopischen Rest des Realsozialismus. Dort legte deren Inspirator Boris Groys seine Planziele dar, um die Denker des Ostens dem Westen näher zu bringen

Ganz so, als ob der Vortragssaal der Frankfurter Schirn-Kunsthalle sich einer festlichen Gelegenheit anverwandelt, als ob nicht ein wohlmeinendes deutsches Publikum im Oktober 2003, sondern, dicht gedrängt, die Belegschaft der Roten Moskauer Museumsprofessur im Oktober 1937 Platz genommen hätte. An der Stirnwand des Saales prangt Wassili Jefanews riesiges Gemälde „Unvergessliche Begegnung“ , auf dem Genosse Stalin, umgeben von Getreuen, gerührt den Blumenstrauß einer Jungkommunistin entgegennimmt. An den Seitenwänden festliche Staats- und Parteiempfänge.

Aber die Szenerie ist kontaminiert: Sehen wir nicht zwischen den Großformaten der Parteiführer und ihrer verzückten Anhänger Produkte aus der Werkstatt Komar & Melamid, Meisterwerke des „Nostalgischen Sozialisischen Realismus“, wo der Stalin-Mythos verdoppelt und damit in seiner ganzen Gewalt sichtbar gemacht wird? Der Vortragssaal ist Bestandteil der Ausstellung „Traumfabrik Kommunismus“, und am Vorstandstisch hat nicht der Parteisekretär samt Stellvertretern Platz genommen, sondern Boris Groys, der Inspirator der Ausstellung und seit zwei Jahrzehnten verdienter Propagandist und Panegyriker des „Gesamtkunstwerks Stalin“.

Groys verkündet die neuen Planziele an der Museumsfront. Es geht um das 2-Jahres-Projekt „Zurück aus der Zukunft“, in dem die Verfasstheit der Menschen nach dem Ende der realsozialistischen Herrschaft in Europa, speziell in Osteuropa thematisiert werden soll. Das Publikum erhebt sich nach dem Ende der Präsentation zwar nicht zu lang anhaltendem donnerndem Beifall. Aber dem Projekt Groys und seiner Mitstreiter ist nicht engagiertes Wohlgefallen sicher.

Als Moderatorin der Veranstaltung fungierte Katharina Raabe, Lektorin im Dienst des Suhrkamp Verlages, auch dies ein Unternehmen im postsozialistischen Zustand. Ihr zur Seite standen neben Meister Groys die in Sachen „Traumfabrik Kommunismus“ verdiente Kuratorin der Schirn, Martina Weinhart, ferner das Ex-Enfant-terrible und heutige Multimedia-Theoretiker Peter Weibel, Zlavoj Zizek, in zahllosen Diskussionen bewährter Handgranatenwerfer, und schließlich Jekaterina Degot, anerkannte Interpretin der postsowjetischen Kulturszene auf beiden Seiten des Atlantik.

Zu Recht kritisierte Boris Groys in seiner Projektpräsentation bisherige Mängel in der Planerfüllung, was die Übermittlung der Grundlagen zeitgenössischen osteuropäischen Denkens in Richtung Westen angeht. Dem soll mit einer Übersetzung im Westen unbekannter Texte utopischer russicher Avantgarde-Denker abgeholfen werden.

Dabei dürfen wir uns besonders auf die Schriften der Kosmisten und Immortalisten freuen, mithin jener Denker der Durchdringung des Universums und der Wiedererweckung der Toten, die einst das Weltbild von Kazimir Malewitsch formten und die später einen starken, unterirdischen Einfluss auf die Entwicklung der sowjetischen Raumfahrt ausübten. Workshops, Seminare und eine Mammut-Konferenz sollen folgen.

Groys konstatierte, auch hier dem Lenin’schen Vorbild folgend, drei Quellen und Bestandteile eines ost-westlichen Missverständnisses: Die westlichen Künstler definierten sich gegen den Markt, während er im Denken der östlichen Kollegen ein utopisches Potenzial enthält. Das Ethnisch-Nationale ist den Westlern ein Schrecken, den Ostlern eine mögliche Quelle der Selbstvergewisserung. Schließlich sind die Ost-Künstler ständig mit der Frage beschäftigt „Ist das normal?“. Zum Beispiel ist der Krieg nach 1990 normal, während im Westen jeder Normalisierungsdiskurs unter Verdacht steht.

Peter Weibel sieht nach dem Zusammenbruch der bipolaren Welt nach 1990, dass der Totalitarismus Richtung Westen gewandert ist. Jetzt trete bei uns an die Stelle der alten „ideologischen Staatsapparate“ der totalitäre ideologische Unterhaltungsapparat, der nicht nur überwache, sondern seine Produkte selbst erzeuge. Weshalb auch eine Wiederholung der Samisdat-Literatur und Kunst im Westen nach dem Vorbild der untergegangenen Sowjetunion wahrscheinlich ist.

Im Gegensatz zur westlichen Neo-Avantgarde, die die politischen und sozialen Implikationen des Avantgardismus verdrängt habe, nehme die postkommunistische Kunst des Ostens den Utopismus der Vorväter auf. Nicht im Sinne kritischer Auflösung, sondern um seine Allgegenwart zu demonstrieren.

Slavoj Zizek sieht in der Vorstellung von der befriedenden, glücksverheißenden Funktion des kapitalistischen Marktes die krasseste aller Utopien. Dieser Traum sei allerdings mit dem 11. 9. 2001 ausgeträumt. Für Zizek heißt Utopie, dass es innerhalb des politisch-sozialen Raums keinen Ausweg mehr gibt, sodass das Gebot der Dringlichkeit eine Suche jenseits dieses Raumes (gleich Topos) vorschreibt.

Aber woher das Utopische nehmen, wenn man es aus dem Osten nicht mehr stehlen kann, so der kritische Einwand gegen Zizek. Utopisches Denken sei im Westen wurzellos, weil drängende Bedürfnisse fehlten, entgegnete Groys. Alles ist möglich. Nekrophilie, so what?

Ganz wie auf einem Festakt des Jahres 1937 gingen die mal kunsthistorisch versierten, mal anekdotisch unterhaltsamen Beiträge der weiblichen Diskussionsteilnehmer angesichts der dreifachen abendfüllenden männlichen Kanonade unter. Aber dieser Rückstand kann ja im Rahmen von Groys Zweijahresplan noch aufgeholt werden. Vorwärts im Geist der Post-Communist Condition!

Ausstellung bis zum 4. 1. 2004 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt, Römerberg