Von Sünden und Besenstielen

Als Schriftsteller auf Wiedergutmachungstour und als Schandmaul aus White-Trash-County auf Wahrheitssuche: Ein Porträt des frisch gekürten Booker-Preisträgers DBC (Dirty But Clean) Pierre, dessen Buch „Vernon God Little“ noch viel grandioser ist als seine verschlungen-kriminelle Lebensgeschichte

von VIKTOR LERDEK

So eine Vita gefällt dem Literaturbetrieb: Der diesjährige Booker-Preissieger ist jemand, dem man vor ein paar Jahren lieber nicht über den Weg gelaufen wäre – gut möglich, dass er einem das Geld aus der Tasche und sich selber durch die Nase gezogen hätte. DBC (Dirty But Clean) Pierre, eigentlich Peter Finlay, 1961 in Australien geboren, in Mexiko aufgewachsen und vor seinen Gläubigern irgendwann auf die britische Insel geflüchtet, war offenbar charismatisch genug, das Vertrauen von Leuten zu gewinnen, und verkommen genug, es für Kokain in den Dreck zu treten. Einmal hat er einem, der ihn für seinen besten Freund hielt, das Haus unter den Füßen weg verscherbelt. Als der Betrogene neulich die Zeitung aufschlug, erblickte er den Mann, der ihn damals obdachlos und abgebrannt zurückzulassen hatte, reinkarniert als Schriftsteller. Am vergangenen Dienstag nun nahm DBC Pierre einen Siegerscheck über 50.000 Pfund entgegen und sagte: „Das geht an Gläubiger. Wenn sie nicht schon hier sind, dann sicher gleich.“ Das Geld werde für ein Drittel dessen reichen, was er schuldig sei.

Das betrifft nur die finanzielle Schuld, also einen Bruchteil dessen, was man mit zwanzig verlorenen Jahren auf dem Buckel mit sich herumschleppt. Die britischen Blätter jedenfalls hatten das Material für eine düstere Pittoreske beisammen: ein wohlstandsverwahrloster junger Taugenichts in Mexiko-Stadt, ein Autoschmuggler in der Schattenwelt der mexikanisch-amerikanischen Grenze, tote Freunde, gebrochene Frauenherzen. The dirty life of Dirty Pierre. Und drei Tage vor der Preisvergabe erzählt er alles dem Guardian. Keine schlechte Publicity. Andererseits ist die Geschichte zu traurig, zu kaputt, um der Einsatz eines kaltschnäuzig berechnenden Spielers zu sein. In Interviews ist zu lesen, dass er einen eher treuherzigen Eindruck macht. Auf Bildern sieht er aus, als ob man ihn ohne Smoking nicht zur Preisverleihung eingelassen hätte.

Da hat sich offenbar einer, der plötzlich im Rampenlicht steht, die Seele erleichtert, aus Angst, dass alles rauskommt. Einer, der alles hinter sich lassen wollte und mal eben ein Buch schrieb. Der Druck, endlich etwas richtig machen zu müssen, sagt er, sei so groß geworden, dass er „ein Kaninchen aus dem Hut ziehen musste“ – so als hätte er ebenso gut den Nobelpreis für Physik gewinnen können. Still und leise habe er damit beginnen wollen, Wiedergutmachung zu leisten. Dirty … but clean. Hinten in seinem Buch steht eine Widmung: „An alle, deren Gestade noch mit meinen Sünden übersät sind – das hier könnte ein Besenstiel sein.“ Doch die Vergangenheit ist ein Quälgeist, still und leise lässt sie sich nicht wegfegen. Er fand einen Verlag, das Buch erschien, und spätestens, als er für den Man Booker nominiert wurde, pochte sie auf ihr Recht.

Natürlich hieß es vereinzelt, man habe ihm den Preis nur für seine Lebensgeschichte gegeben. Ob er sich mit der wirklich gegen die Romane der favorisierten Zadie-Smith-Nachfolgerin Monica Ali und der großen Margaret Atwood durchgesetzt hätte? Die Wahrheit ist, dass DBC Pierres Buch viel besser ist als seine Lebensgeschichte. „Vernon God Little“ ist sprachlich grandios, teilweise beklemmend und durchweg sehr komisch. Die Erzählerstimme ließ die britischen Rezensenten im Chor „Holden Caulfield“ rufen, mit den Dialogen könnte man Elmore Leonard erpressen, und das sensationelle, doppelbödige Ende erlaubt nur eine Reaktion: schallendes Gelächter. Oder wie der Titelheld sagen würde: This book fucken rocks.

Das würde man nicht vermuten, wenn man nur hört, wovon es handelt. DBC Pierre nimmt sich in seiner Satire nämlich so gezielt den populären Themenkatalog der Amerikakritik vor, dass man die Zähne zusammenbeißt und an Michael Moore denkt: Highschool-Massaker, Todesstrafe, die Allmacht der Medien und allgemein grassierender Stumpfsinn. Wir befinden uns in White-Trash-County, Texas, in einem Ort namens Martirio, wo der 15-jährige Vernon von der übergewichtigen Trauergemeinde zum Sündenbock gestempelt wird, während seine Mutter mit ihren furchterregenden Feundinnen vorm Fernseher sitzt, über Diäten und anderer Leute Geld tratscht und darauf wartet, dass ihr neuer Kühlschrank geliefert wird. Ein falscher CNN-Reporter mit der Ausstrahlung eines Raststätten-Conferenciers führt die rachedurstige Meute ehrenwerter Bürger an, das Swat-Team wird von Bar-B-Chew Barn, dem örtlichen Fast-Food-Tempel, gesponsort. Taylor Figueroa, das Pin-up aus Vernons Fantasie, und Mexiko, wo er mit ihr in den Sonnenuntergang laufen will, scheinen unerreichbar – zunächst. Ein Plot voller Hinterhalte führt irgendwann in den Todestrakt, der privatisiert und in einen Big-Brother-Knast mit Kameras in den Zellen umgewandelt wird: Die Zuschauer können die Kandidaten rauswählen. Für immer.

Das hört sich grotesk an, erscheint aber beim Lesen folgerichtig, weil es aus einer leicht verfremdeten Wirklichkeit erzählerisch überzeugend hervorgebracht wird, in der Stimme eines verängstigten, liebenswerten Teenagers, der gar nicht merkt, wie treffend er seine Welt charakterisiert. Er drückt sich nicht immer sehr gewählt aus, doch das Vulgäre in diesem Roman ist nicht Vernons Wortwahl, sondern die Austattung des gruseligen Talkshow-Themenparks, in dem er zu Hause ist: Im Fernsehen laufen Gerichtsübertragungen, die Kirche veranstaltet eine „Tragödientombola“ und alle beteuern sich gegenseitig, dass sie „total am Ende“ sind.

Ein Horrorfilm, unterlegt mit weinerlichen Streichern. „Was soll das denn für ein Scheißleben sein?“, fragt sich Vernon und kann sich gleichzeitig kein anderes vorstellen, denn ihm fehlt der sprachliche Hebel, den er von außen ansetzen könnte. Er hält sich für ein Arschloch, ist aber in Wirklichkeit der einzige Unschuldige Martirios, ein Schandmaul auf Wahrheitssuche. Man muss ihm nur zuhören: wie er mit seiner Sprache, einem Gemisch aus Fernsehtonfällen und der Umgangssprache des Südens, die Dinge zärtlich berührt und erkennbar macht. „Vernon God Little“ greift in den Schmutz und formt daraus ein sprachliches Meisterwerk. Dafür hat DBC Pierre, kein Unschuldiger, zu Recht den wichtigsten britischen Literaturpreis gewonnen.

„Vernon God Little“ (Faber and Faber, London) erscheint im Frühjahr 2004 als „Jesus von Texas“ im Aufbau Verlag