Die Geschichte des Furzes

„Making History“: Linke Gruppen reflektieren in München über Umwelt, Menschenrechte – doch kaum über sich selbst

„Wenn der hohe Herr vorbeizieht, macht der weise Bauer eine tiefe Verbeugung und furzt leise“, lautet ein äthiopisches Sprichwort. Der Bauer ist der Unterdrückte, der seinen Protest, unsichtbar für den Herrn, durch leise Fürze ausdrückt. Das Zitat ist auf dem Historikertag „Making History“ gefallen, der kürzlich in München stattfand.

In den stahlbetonierten Räumen der geschichtswissenschaftlichen Fakultät der Maximilians-Universität treffen Querdenker aus allen linken Nischen aufeinander. Mit Wolfgang Fritz Haug ist einer der profiliertesten marxistischen Philosophieprofessoren angereist. Marcel van der Linden vertritt das International Institute of Social History und Richard J. Evans die linke Historikerschule in Großbritannien. Außer den Alteingesessenen sind zahlreiche Nachwuchswissenschaftler und politisch Aktive der Einladung des Arbeitskreises Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefolgt. Alle, ob alt, jung, radikal oder liberal, treiben Kritische Geschichte, soll heißen, sie forschen nicht über den Herrn, sondern über den Bauern und die Chronologie seiner Fürze.

Auf der Landkarte des bundesdeutschen Protests seit 1968 gibt es erschreckend viele weiße Flecken, behauptet Bernd Hüttner, Politologe aus Bremen. Hüttner, Jahrgang 1966, hat außerdem Verwaltungswissenschaften studiert, sieht auch ein bisschen so aus, steht aber seit fast 20 Jahren mit beiden Beinen fest im linksradikalen Milieu. Er widmet sich der Geschichte des leisen und lauten Protests der Nach-68er-Generationen. Dazu hat er die Archive linker sozialer Bewegungen durchforstet, ihre Bestände aufgelistet und dabei festgestellt: „Eine brauchbare Geschichtsschreibung der undogmatisch-linken Bewegungen existiert kaum.“

Es gibt zwar einige einsame Bücher über die Geschichte der Autonomen, wie die eines Berliner Autonomenhäuptlings namens Geronimo oder hie und da eine Dissertation. Doch arbeiten die Autoren vorwiegend Großereignisse wie Demos und Straßenschlachten ab. Der Alltag tauche kaum auf, konstatiert Hüttner, und die ganze Geschichtsschreibung sei deshalb antiquierte Ereignisberichterstattung. Die Ursachen für diese „Geschichtslosigkeit“ der radikal Linken liegen für Hüttner in erster Linie im eigenen Selbstverständnis, das von Aktionen und Spontanität geprägt ist – man beschreibt lieber Transpis als sich selbst. Hinzu kommt, dass Antifa und Co. eher Jugendbewegungen sind – die Aktiven erleben ein schwarz-rotes Jahrzehnt von 17 bis 27 und kehren ihrer „wilden“ Jugend dann ein für alle Mal den Rücken.

Die um Hüttner versammelten übrig Gebliebenen nicken dazu. Ein junger Mann aus einer Münchener Antifagruppe, dem Aussehen nach höchstens Mitte 20, fühlt Verschleißerscheinungen: „Jedes Wochenende in der Früh raus, um in irgendei’ Kaff zu fahren und gegen Nazis zu protestieren – das schlaucht. Jetzt mach i das nimmer. Soll der Nazi doch sehen, wo er bleibt.“ Mitfühlendes Gelächter. Flori aus Köln geht es ähnlich: „Bei mir kam mit 16 der große Knall. Ich habe mich voll in jede autonome Aktion reingeschmissen und dabei Selbstfindungsphase eins bis drei durchgemacht. Ab Mitte 20 beschäftigt man sich dann auch mit der eigenen Geschichte. Man gleitet aber schnell ab ins Nostalgische. Und dann wird man 30, und die nächste Generation kommt rein und will sich partout nichts sagen lassen.“ Eine Frau mit grau gesträhntem Haar pflichtet ihm bei: „Wir machen manchmal Aktionen mit der hiesigen Attac-Gruppe. Das sind lauter junge Leute. Die tun so, als ob sie alles neu entdecken, und erfinden das Rad dabei noch mal.“

Sie arbeitet bei der Geschichtswerkstadt in Ulm. Die so genannten Barfußhistoriker haben den Anspruch, die Geschichte derjenigen an die Öffentlichkeit bringen, die neben dem Historien-Mainstream stehen: Frauen, Migranten, so genannte Unterschichten. Aber ihre eigene Geschichte bleibt oft im Dunkeln. Denn da zeigt sich das profanere Problem linker Gruppen: „Man hängt schier am Tropfe und kann sich keinen Historiker leisten“, beklagt die Ulmerin.

Kein Geld, keine Lust, keine Leute. Ein kollektives Gedächtnis, konstatiert Bernd Hüttner, das sich in aktuelle politische Debatten einbringt, kann sich so nur schwerlich bilden. Es sei also höchste Zeit, eine Alltagsgeschichte linker Bewegungen zu schreiben. Alle geben ihm Recht – keiner protestiert.

ANNA LEHMANN