Demokratie als Programm

Hermann Scheer will die Souveränität der Bürger schützen. Sein Essay „Politiker“ ist ein Lehrbuch des politischen Handelns

von MATHIAS GREFFRATH

Hermann Scheers Karriere führte vom Jusovorsitz in Baden-Württemberg bis in den SPD-Parteivorstand. Als Präsident von Eurosolar und mit seinen Büchern über „Solare Weltwirtschaft“ hat er Strategien zum Übergang ins solare Zeitalter propagiert, für die er den Alternativen Nobelpreis bekam. Im Bundestag hat er strategische Gesetze zur Einführung nichtfossiler Energien durchgesetzt, fraktionsübergreifend und in der geschickten Kombination parlamentarischer und außerparlamentarischer Aktivitäten – das heißt: mit Politik im Geiste des Grundgesetzes.

Vor allem weil dieser demokratische Mechanismus, das Zusammenwirken von Bürgern und Parlament, nicht mehr funktioniert, so die These seines Essays, ist unsere real existierende Demokratie nicht in der Lage, die großen Zukunftsaufgaben zu thematisieren – von der Erosion des Wohlfahrtsstaates über die Naturzerstörung bis zu neuen Formen der Gewalt.

Am Anfang des Buches steht der kurze Zorn: über Edelpopulisten außer Amt, die von der „Machtvergessenheit“ der Politiker jammern; über Journalisten, die auf Alphatiere fixiert sind und damit die Probleme verdunkeln. Natürlich wird „eingeschüchtert, bedroht, behindert, belogen oder übergangen“. Punkt. Politiker, so das Resultat von Scheers pointierter Phänomenologie, sind machtgeil, idealistisch, medialnarzisstisch, betriebsselig und gemeinwohlorientiert, selten nur eins davon, und je nach politischer Lage wechselnd. Die medialen Konjunkturen von Heilserwartung und Enttäuschung zeigen vor allem eines: Die Gesellschaft hat ihre Kräfte delegiert, statt Politik als ihre ureigene Lebensform zu verinnerlichen.

Eine staatsbürgerliche Utopie also? Mitnichten. Scheer erinnert an die niederschmetternde Tatsache, dass die Zahl der Parteimitglieder nach einem Hoch in den Siebzigerjahren inzwischen fast wieder auf den Stand von l965 gefallen ist. Eine Bewegung, die annähernd deckungsgleich ist mit dem Wechsel von „Aufbruch“ zu Stagnation. Mit Parteienschelte, argumentiert Scheer, machen wir uns dümmer als wir sind. Seit Robert Michels, Max Weber & Co. wissen wir, dass Parteien allein Politik auf Dauer stellen können. Nur: Sie sind stets von Bürokratie bedroht, von der unvermeidlichen Ermüdung der Aktivisten, von Klientelwesen, Elitenklüngel und (medial unterstützter) Geschlossenheitsbesessenheit. So werden gerade die existenziellen, also strittigen Sachverhalte oft ausgeklammert.

„Die Politiker“ – Scheers Titel stapelt tief. Sein Essay ist nichts weniger als ein kleines Lehrbuch vom politischen Handeln in den Strukturen, wie sie nun einmal sind – geprägt von zwanzig Jahren Praxis. Eine Lehre von den Hindernissen also: die verdummende Spezialisierung der parlamentarischen Arbeit; die bürokratische Transformation der Demokratie, befördert durch den „Gouvernementalismus“ der Kohl-Jahre, in der sich die sozialdemokratischen Spitzenkräfte ungut eingerichtet haben. Das alles aber sind strukturelle Dauerdegenerationen verändernder Politik in komplexen Gesellschaften. Die gegenwärtige Dramatik geht tiefer, denn dieser Betrieb als ganzer wird seit zwei Jahrzehnten zunehmend: bedeutungslos.

Im Kern von Scheers Essay steht die parlamentarische Innenseite der globalen neoliberalen Wende, das Verdampfen nationaler Gestaltungsmacht: durch die ökonomische Weltregierung WTO und ihr „Grundgesetz“, den Washington-Konsens. Spannend erzählt Scheer vom dramatischen Höhepunkt dieser Machtübernahme: der Ratifizierung des WTO-Vertrages. An einem Nachmittag wird er durch den Bundestag gepeitscht, kein Parlamentarier hat ihn gelesen, er liegt nicht einmal vor – weil er, so die Parteiführungen, ja ohnehin „unumstrittener Konsens“ ist. Ein „kalter Staatsstreich“, eine „klare Verfassungsbeugung“, eine Blankoabdankung der Parlamente, der Regierungen, der Staaten zugunsten des übernationalen „Marktstaats“, der „fest in den Händen internationaler Privatgesellschaften ist“. Eine historische Zäsur, und keiner hat’s gemerkt.

Den zweiten, gravierenderen Souveränitätsverlust sieht Scheer in der gegenwärtigen Form des europäischen Binnenmarktes. Die üblichen Bürokratieklagen lenkten nur ab vom faktischen Skandal der „absolutistisch“ regierenden Generaldirektion Wettbewerb in der Brüsseler Kommission. Ihre – ohne parlamentarische Beteiligung – verabschiedeten und nur schwer zu revidierenden Regeln machen im Prinzip jede wirtschaftliche Strukturpolitik unmöglich. Und der neue EU-Verfassungsentwurf verschärfe das noch.

Unter der Hand ist so „das Politische“ auf das Regierungshandeln, dieses wiederum auf die Exekution globaler Markzwänge und europäischer Liberalisierungsdekrete geschrumpft, denen nun durch „Reformen“ Rechnung getragen wird, die das Staatsvermögen verschleudern, die Identifikation der Bürger mit ihrem Staat zerstören und den Populismus züchten. Zu schützen sei also heute vor allem: die demokratische Souveränität der Bürger. „Die Kernforderung dieses Buches ist vielleicht die einzige, die derzeit in allen Ländern der Welt mehrheitsfähig ist: die Wiedereinführung der parlamentarischen, gewaltengeteilten Demokratie! Die demokratische Verfassung als Grundsatzprogramm!“

Das ist ein Appell, den „Staatsstreich“ wirklich wörtlich nehmen – vielleicht gelingt es ja dann noch einmal, die Köpfe zu drehen. Und dann? Verstreut in seinem Essay entwickelt Scheer, was ansteht: Reformen, die Kommunen und Ländern eigene Steueraufkommen garantieren; die Sicherung der Infrastrukturen von Verkehr, Kommunikation, Umwelt und Gesundheit, sodass sie allen dienlich und zugänglich bleiben; eine Energiepolitik weg vom Öl; politische Entscheidungen darüber, ob es in Zukunft noch einen Mittelstand, eine landwirtschaftliche Produktion, ein staatliches Bildungswesen geben soll. Für all das ist eine grundsätzliche Neubewertung und Revision der neuen, informellen, faktisch oft genug „Cosa-Nostra-ähnlichen“ europäischen und globalen Wirtschaftsverfassungen nötig.

Eine „Kulturrevolution“ tue Not, so Scheer am Ende lakonisch. Aber ob Attac und andere Bürgerbewegungen den Parlamenten Beine machen können, ob gar, wie vor dreißig Jahren, eine neue Generation die ausgezehrten Parteien in Stand besetzt oder sich im Protest erschöpft – das wird davon abhängen, ob sich auch innerhalb der Parteien Dissidenten qualifizieren, am Bundestagspult, in den Medien – und das nicht erst nach ihrer Pensionierung. Hermann Scheer könnte einer von ihnen sein.

Hermann Scheer: Die Politiker, Verlag Antje Kunstmann, München 2003, 288 Seiten, 19,90 Euro